Wie sehen zukünftige Geschäftsmodelle im Zeitalter der Digitalisierung aus? Welche Rolle spielen Nachhaltigkeit und Komfort für Nutzererlebnisse und die Produktentwicklung bei Unternehmen? Professor Maximilian Röglinger und Professor Björn Häckel von der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer FIT erklären die Rahmenbedingungen ihrer Studie, was es mit Orchestrierung von Kundenerlebnissen auf sich hat und wie künftig mit datenschutzrechtlichen Aspekten umgegangen werden könnte.

Herr Professor Röglinger, Herr Professor Häckel. Neben Ihrer jeweiligen Professur an der Universität Bayreuth und der Hochschule Augsburg arbeiten Sie beide an der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT. Vor diesem Hintergrund haben Sie dieses Jahr eine Studie über die Unternehmens- und Arbeitswelt der nahen Zukunft veröffentlicht. Wie kamen Sie darauf, das alles in zehn kompakte Thesen zu fassen und warum gerade 2025?

Röglinger: Wir wollten keine unnötig lange Zukunftsprognose betreiben, sondern einen sinnvoll abschätzbaren Zeithorizont wählen. Speziell vor dem Hintergrund, dass viele Unternehmen derzeit schon intensiv an der Digitalisierung arbeiten, Roadmaps definiert haben und diese gerade abarbeiten. Daher wollten wir einen Blick auf die unmittelbare Zeit nach dieser Digitalisierungswelle werfen – es sind ja immerhin noch sechs Jahre.

Häckel: Es ging uns auch darum, anhand knackig und provokant formulierter Thesen Handlungsfelder für Unternehmen zu identifizieren, an denen sie sich in Zukunft, insbesondere in Bezug auf die Gestaltung der Unternehmensstrategie und des Geschäftsmodells, orientieren können. Unsere Motivation kam v.a. daher, dass momentan eine immer größere Anzahl neuer Technologien rasant die Markt- und Wettbewerbsstrukturen beeinflusst und dies in immer kürzeren Intervallen geschieht.

Röglinger: Die Studie entstand auf Basis eines Fraunhofer-Projekts, das wir zusammen mit Fujitsu Technology Solutions initiiert hatten. Wir haben mit ausgewählten Experten gesprochen, bei denen wir zukunftsweisende Gedanken erkannt haben. Es waren etwa 15 Experten, aber auch Kollegen aus der Praxis, aus der Forschung, z.B. an Universitäten und Hochschulen. Somit hatten wir eine schöne Mischung aus Experten aus Wissenschaft und Praxis auf nationaler und internationaler Ebene, aus KMUs und größeren Unternehmen über unterschiedliche Branchen verteilt. Es wurden semi-strukturierte Interviews geführt, um herauszufinden, welche Themen ihre Branche zukünftig beschäftigen werden. Daraus wurde dann schnell eine Ideensammlung, die zum Nachdenken anregt, etwas Kompaktes, das einfach zu präsentieren ist.

Wieso haben sie sich für die zentralen Begriffe »Organisation« und »Ökosystem« entschieden? »Organisation« wird oft auch mit sozialen Strukturen verbunden und lässt beispielsweise an Parteien oder NGOs denken. Der Begriff Ökosystem hingegen erinnert an die Ökologie.

Röglinger: Wir haben den Begriff Organisation gewählt, da wir uns bewusst etwas vom klassischen Unternehmensbegriff entfernen wollten – schließlich gibt es noch andersstrukturierte Organisationsformen, beispielsweise im non-profit Bereich. Zwar betreffen unsere Themen weiterhin hauptsächlich Unternehmen. Darüber hinaus aber eben auch Organisationen, die sich stärker mit den ökologischen und gesellschaftlichen Folgen von Produkten und Dienstleistungen auseinandersetzen. Die Definitionen verschwimmen hier teilweise, sodass man auch von Netzwerken sprechen kann.

Den Begriff Ökosysteme gibt es im betriebswirtschaftlichen Kontext schon recht lange. Es geht darum, dass sich Unternehmen zu festen oder losen Verbünden zusammenschließen, um im sogenannten »Coopetition-Modus«, also »Collaboration und Competition«, zu arbeiten. Um auch zukünftig die sich wandelnden Bedürfnisse der Kunden noch bedienen zu können, müssen Ressourcen und Kompetenzen unternehmensübergreifend zusammengelegt werden. So werden Ökosysteme geschaffen, in denen alte Rollen neu verteilt werden und neue Rollen entstehen.

Häckel: Ein wenig spielt der Begriff dennoch auf ökologische Zusammenhänge an: Es geht um ein stark symbiotisches Zusammenspiel der einzelnen Kooperationspartner, die ihre Kernkompetenzen komplementär miteinander in Einklang bringen müssen, um innovative Produkte und Dienstleistungen anbieten zu können, die im Alleingang nicht möglich gewesen wären.

Vernetzung und Orchestrierung

Ein zentraler Punkt der Studie ist die höhere Vernetzung: Sie sprechen an vielen Stellen von einer »Orchestrierung« durch Unternehmen, die Sie als Möglichkeit zur Verbesserung des Konsumerlebens und ‑verstehens auffassen. Dazu braucht es vor allem viele Daten. Einerseits gehen viele Menschen mit ihren Daten recht unbedacht um und haben eher ihren eigenen Komfort bei Dienstleistungen und Produkten im Blick. Andererseits klingt der Gedanke der Unternehmen als »Datenverwalter« in der Zeit der Datenschutzskandale nicht gerade vertrauenserweckend.

Häckel: Zum einen sprechen Sie das wichtige Thema des Privacy-Paradoxons an: Viele Personen gestehen ein: Datenschutz wird immer wichtiger, handeln jedoch konträr dazu und veröffentlichen ihre Daten bedenkenlos auch dort, wo die Nutzung intransparent ist. Der Trend geht jedoch klar dahin, dass ich als Kunde in Zukunft immer mehr darüber entscheiden möchte und werde, was mit meinen Daten geschieht und ob mir aus deren Nutzung durch Unternehmen ein persönlicher Wert entsteht. Ein wichtiges Thema ist hier definitiv der »Convenience« oder Bequemlichkeitsfaktor. Andererseits geht es aber auch darum, individualisierte Produkte oder Dienstleistungen zu erhalten, die so nur durch Datenpreisgabe möglich sind. Dieses Spannungsfeld wird sich in der Zukunft noch verstärken.

Neue Möglichkeiten bieten z.B. Technologien wie der Digitale Zwilling, der auch bei Fraunhofer erforscht wird. Am Ende werde ich als Privatperson die Hoheit über meine Daten weiter haben müssen – das ist eine Grundvoraussetzung. Allerdings wäre es denkbar, die Verwaltung meiner Daten an eine vertrauensvolle Instanz abzugeben. Ob Bank, Versicherung oder staatliche Organisation – sie verwaltet im Auftrag des Kunden die Daten, also Zugriffs- und Änderungsrechte, die dann von anderen Firmen verwendet werden können. Solche Organisationen müssen natürlich erst als vertrauensvoll identifiziert werden. Daraus könnten sich wiederum neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Wenn man von umfassender Orchestrierung und Vernetzung spricht, die eine Art »rundum-sorglos-Paket« für Kunden beinhaltet, dann geht es laut Ihren Ausführungen auch um eine Langzeitbegleitung bzw. -verantwortung »über den Lebenszyklus hinweg«. Wie kann man sich das beispielsweise in der Automobil- oder Finanzbranche vorstellen?

Röglinger: Hier gibt es eine technische und eine fachliche Ebene: Wenn man an die Finanzbranche denkt, sieht man, dass wir über standardisierte Schnittstellen und APIs verfügen, die zu einer Öffnung vormals geschlossener Unternehmen und einer größeren Vernetzung führen. Hier müssen Banken beispielsweise Drittanbietern den Zugriff auf Kontodaten ermöglichen – es handelt es sich hier um eine Interoperabilität über standardisierte Programmierschnittstellen.

Auf der fachlichen Ebene stellt sich die Frage: Was möchten Kunden überhaupt? Dabei geht es bei vielen Unternehmen momentan um Customer-Experience-Optimierung oder – wie am Fraunhofer FIT – um ganzheitliche, nutzerzentrische Systemgestaltung. Hier herrscht oft noch die Inside-out-Perspektive vor, d.h. die Unternehmen bieten Kunden fertige oder begrenzt anpassbare Lösungen an, anstatt die Bedürfnisse der Kunden aktiv einzubeziehen. Zukünftig wird sich alles mehr um eine Ende-zu-Ende-Orchestrierung entlang der Kundenbedürfnisse in Kooperation mit anderen Unternehmen drehen, um Individualisierung und eine Outside-in-Perspektive.

Lassen Sie uns konkret werden: Wie sieht das beispielsweise – gerade im Hinblick auf den Lebenszyklus – in der Automobilbranche aus?

Röglinger: Viele Startups in diesem Bereich entwickeln übergreifende Konzepte und multimodale Mobilitätslösungen, z.B. Anbieter, die Kunden über verschiedene Verkehrsmittel per Apps ans Ziel bringen wollen. Immer mehr Automobilanbieter gehen vom klassischen Autoverkauf zum Thema Mobilität über. Das sind erst einmal Querschnittslösungen, die das Kundenbedürfnis komplett erfassen und keine Längsschnittlösungen, die zeitlich langfristig orientiert sind.

Häckel: Bei der Frage des Lebenszyklus muss man gerade beim Carsharing auch die langfristigen Effekte auf die Kundenbeziehung betrachten: Vordergründig geht es um die Idee des »rundum-sorglos-Paketes« für Kunden unterschiedlicher Einkommens- und Altersstufen mit verschiedenen Mobilitätsbedürfnissen. Oft zielt Carsharing hier auf jüngere Kunden in urbanen Gegenden, denen der materielle Besitz des Autos weniger wichtig ist als flexible Mobilitätslösungen – oft auch einkommensbedingt. Hier ist das Flottenmanagement, die Reinigung, Bezahlvorgänge usw. so integriert, dass der Kunde sich nur noch ins Auto setzen und es wieder abstellen muss. Wenn ebendiese Kunden aber älter werden - und vielleicht auch das Einkommen steigt – ändern sich oft auch die Bedürfnisse. Hier kann sich der gute Eindruck, den ich als Unternehmen hinterlassen habe, später positiv auf die Kaufentscheidung des Kunden auswirken, wenn die Tendenz doch eher in Richtung eigenes Auto geht.

Das Konzept ist nicht neu und ist letztlich bei Finanzdienstleistern ähnlich: Es reicht von Vermögensaufbau bis zu Versicherungsschutz und Altersvorsorge. Das Entscheidende hier ist, dass viele dieser Lösungen aus einer Hand kommen und die Kunden letztendlich das ganze Leben lang begleitet werden sollen. Man muss jedoch sagen, dass wir noch längst nicht bei einer so orchestrierten und lebenszyklusbegleitenden Betreuung sind, wie wir sie beschreiben.

Ein Umdenken in der Gesellschaft

Sie sprachen auch über Ökologie und gesellschaftlichen Folgen. Zwar gibt es einige Unternehmen, die soziale oder ökologische Gedanken, z.B. im Bereich des »profit sharing« verfolgen. Sehen Sie es jedoch als reale Chance an, dass Unternehmen im Zuge der erhöhten Orchestrierung ihre neue Rolle auch dafür einsetzen werden, dass der »gesellschaftliche Nutzen«, wie Sie ihn anführen, gefördert wird?

Röglinger: Es wird auf jeden Fall eine Geschäftsmodellentwicklung in diese Richtung geben: Wir sehen schon heute, wie sich persönliche Präferenzen verschieben. Wir haben vor kurzem in einer nicht repräsentativen Umfrage nachgeforscht, ob Verbraucher bereit wären, im Bereich der Modeindustrie für nachhaltigen Versand und nachhaltige Kartons mehr zu bezahlen. Gerade viele jüngere Menschen waren bereit, Mehrkosten zugunsten der Umwelt in Kauf zu nehmen. Die Unternehmen realisieren, dass sich die Einstellung der Kunden verändert und dass Nachhaltigkeit ein zentraler Punkt in unserer Gesellschaft geworden ist – auch zur Differenzierung am Markt.

Häckel: Die von Herrn Röglinger angesprochene Entwicklung eröffnet neue Möglichkeiten: Das Nachfrageverhalten ändert sich, aber auch die Zahlungsbereitschaft, wodurch es möglich ist, Produkte oder Dienstleistungen mit neuen Erlösmodellen am Markt zu etablieren. So lassen sich auf Gewinnmaximierung abzielende Geschäftsmodelle mit einer neuen gesellschaftlichen Ausrichtung vereinbaren.

Röglinger: Das Konsumverhalten, das momentan stark an Modellen der Fast-Fashion orientiert ist, wird sich zukünftig ändern. Es wird immer eine Billigproduktsparte geben, aber darüber hinaus werden sich Endkunden mehr und mehr für Nachhaltigkeit interessieren und dafür auch Kaufbereitschaft entwickeln. Neben der Nachfrage wird es aber auch politischer Einflussnahme bedürfen, da die Entwicklung sonst nicht schnell genug voranschreiten wird.

Häckel: Ich sehe hier auch die Endkunden in der Pflicht. Solange sich die grundlegende Konsumeinstellung nicht ändert, wird sich das System selbst nur sehr schwerfällig wandeln. Wenn man weiterhin billig bei Anbietern bestellt, die eine riesige Logistikmaschinerie bei niedrigen Löhnen und Preisen betreiben, ist das alles andere als förderlich für die Umweltbilanz. Auch im Bereich des Verkehrs gibt es solche Beispiele. Sicherlich ist es nicht allen Haushalten möglich, auf günstige Produkte und Dienstleistungen zu verzichten. Aber meiner Meinung nach ist der Bequemlichkeitsfaktor auch bei Besserverdienern sehr groß.

(mal)

Der zweite Teil des Interviews ist am 3. Dezember auf Fraunhofer-InnoVisions erschienen.

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Prof. Dr. Maximilian Röglinger
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT
Prof. Dr. Björn Häckel
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT
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