Woran richten sich die Berufe der Zukunft im Zeitalter der Digitalisierung aus? Welche Chancen bieten Automatisierung und neue Technologien für den Wettkampf der Unternehmen? Professor Maximilian Röglinger und Professor Björn Häckel von der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer FIT erklären, was es mit disruptiven und nichtdisruptiven Entwicklungen auf sich hat und warum sich digitale Plattformen und Ökosysteme gerade für kleinere Unternehmen und Mittelständler lohnen können.

Automatisierung und Technologisierung

Herr Professor Röglinger, Herr Professor Häckel. Ein wichtiger Punkt, der immer wieder – auch kontrovers – diskutiert wird, ist die Automatisierung der Arbeitswelt. Sie schreiben: »Organisationen müssen daher disruptive Innovationen hochautomatisiert generieren«, aber gleichzeitig, dass »der Fokus von Mitarbeitern […] auf nichtdisruptiven Innovationen« liege. Wie kann man sich das vorstellen?

Röglinger: Wir verstehen nichtdisruptive und disruptive Entwicklung in diesem Zusammenhang nicht als schrittweise oder sprunghaft. Das bedeutet, ein Produkt oder Prozess kann durchaus schrittweise verbessert werden, aber trotzdem in unserem Verständnis disruptiv sein. Genauer: Disruptive Innovation bedeutet: »Ich mache das, was ein Wettbewerber macht, günstiger oder schneller oder inhaltlich besser bei gleichem Preis.« Es heißt deswegen also disruptiv, weil man dafür sorgt, dass der Umsatz eines Dritten einbricht und marktverdrängend wirkt. Nichtdisruptiv hingegen meint, dass neue Kundenbedürfnisse geweckt werden, die nicht dazu führen, dass Konkurrenten vom Markt verdrängt werden, da entsprechende Produkte oder Dienstleistungen noch gar nicht angeboten werden. Denken sie beispielsweise daran, wie Apple den Smartphone-Markt revolutioniert hat. Mit seinem ersten Smartphone schuf es eine Sparte, die langfristig zwar für das Betriebssystem Symbian das Aus darstellte. Gleichzeitig schuf Apple mit seiner neuen Oberfläche und den vielen Internet-basierten Möglichkeiten aber ganz andere Bedürfnisse. Bei nichtdisruptiver Innovation vergrößert man sozusagen den Kuchen. Solche Entwicklungen lassen sich schwer automatisieren. Aber wenn es um Effizienzsteigerung geht – sogar im Innovationsprozess – lässt sich heute schon eine Menge über Künstliche Intelligenz (KI) schaffen. Prozessverbesserungsideen generieren wir heute etwa schon mit genetischen Algorithmen. Hier ist menschliche Kreativität bald überflüssig.

Häckel: Facebook ist ein weiteres Beispiel. Vor einiger Zeit hätte niemand die Plattform vermisst, da es etwas Vergleichbares einfach noch nicht gab – es war also eine nichtdisruptive Innovation! Schaut man mehr in Richtung Industrie, gibt es z.B. die Firma Klöckner & Co., die vormals komplett analog mit Stahl handelte. Inzwischen haben sie jedoch eine digitale Plattform geschaffen, die offen sowie für Anbieter und Nachfrager nutzbar ist und dafür sorgt, dass dem Unternehmen eine Schlüsselposition im Markt zukommt und sich ein neues Geschäftsmodell entwickelt hat.

Gerade wenn es um die neuen Mitarbeiter in Unternehmen geht, ist es sicherlich richtig und wichtig, neue Berufsfelder zu erschließen und Karriereperspektiven sowie Weiterbildungen anzubieten. Muss zukünftig jeder Mitarbeiter fürchten, durch automatisierte Prozesse ersetzt zu werden, wenn er oder sie nicht zu einem digitalen »Orchestrierer« wird?

Häckel: Es stimmt zwar, dass transaktionale, repetitive und weitere Tätigkeiten zunehmend digitalisiert und automatisiert werden und dadurch auch Jobs wegfallen werden. Allerdings wird es auch immer mehr zu einer Fokusverlagerung kommen, bei der Themen wie »menschliche Einschätzung«, Kreativität und strategische Entscheidungen in den Vordergrund rücken. Dafür müssen entsprechende Weiter- und Fortbildungsprogramme angeboten werden. Das bedeutet ebenfalls, dass nicht jeder Mitarbeiter die nötigen Qualifikationen und Fähigkeiten aufweisen können wird. Wir glauben aber, dass sich nach einer Transformationsphase mittelfristig neue und vielleicht auch mehr Arbeitsplätze schaffen lassen.

Röglinger: Über die befragten Experten wissen wir, dass man sich in Unternehmen immer mehr vom klassischen Rollenbegriff löst und projektbezogene Arbeit in den Vordergrund rückt. Mitarbeiter werden anhand ihrer Fähigkeitsprofile eingesetzt und sind nicht mehr als Spezialist, z.B. im Bereich E-Commerce, jahrelang nur in einer Rolle tätig. Hier kann die Rolle von Projekt zu Projekt durchaus vom Technologieexperten zur Führungsposition wechseln. Da diese Arbeit nicht gerade den Stresspegel senkt, wird es erstens umso wichtiger, Mitarbeitenden eine Heimat im Unternehmen zu geben. Eine zweite Herausforderung ist, die Langzeitmotivation der Mitarbeitenden zu gewährleisten – und hier spielen nicht nur monetäre Anreize eine Rolle.

Häckel: Oft gibt es auch die Befürchtung, dass durch die Digitalisierung die Zwischenmenschlichkeit verlorengeht. Ich denke, es könnte sogar andersherum ablaufen. Durch die projektbezogene Arbeit, werden die Mitarbeiter natürlich kommunikativ mehr gefordert, kommen aber dadurch auch mehr mit anderen Menschen in Kontakt. Hier haben »Soft Skills« eine Schlüsselrolle. Das klassische Spartendenken wird in Zukunft nicht mehr möglich sein.

Technologien wie »Quantum Computing« und die Mustererkennung per intelligentem Algorithmus sind inzwischen zukunftsweisend – gerade im Bereich KI wird auch bei der Fraunhofer-Gesellschaft ständig und viel geforscht und mehr Unternehmen machen sich die Distributed-Ledger-Technologie zunutze. Es gibt aber oft noch gravierende Einschränkungen, etwa bei der Fehleranfälligkeit im Bereich der Mustererkennung von Bewegtbildern. Welche Technologien bieten aus Ihrer Sicht ein besonderes Potenzial, demnächst im Alltag einsatzfähig zu sein?

Röglinger: Neben den Bestrebungen der Fraunhofer-Gesellschaft gibt es etwa auf Bundes- und Länderebene Initiativen zur Erforschung von KI, aber auch diverse Forschungsprogramme in Wirtschaft und Industrie. Ich denke, wir werden gerade KI in Zukunft nicht nur häufiger in Back-Office-Themen wie Predictive Maintenance, die durch Datenmanager oder -wissenschaftler interpretiert werden, sehen. Anwendungen wird es ebenso im Front Office, also in der direkten Mensch-Maschine- oder Unternehmen-Kunde-Interaktion geben. Mit Chatbots sind viele Menschen schon in Kontakt gekommen, ohne es zu wissen. Solche Anwendungsfälle werden aber auch auf andere Branchen übergehen, z.B. im Bereich Pflege und Robotik, in denen bereits heute Roboter eingesetzt werden.

Auch die anderen diskutierten Schlüsseltechnologien wie Distributed Ledger, Internet der Dinge usw. werden eine stärkere Konvergenz aufweisen, d.h. sie werden in Anwendungsfällen v.a. kombiniert zu finden sein. Wir am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT legen einen besonderen Fokus auf eine integrierte Betrachtung digitaler Technologien - etwa im Blockchain-Labor. Dies sieht man etwa in dem von Kollegen durchgeführten IoT-, KI- und Blockchain-Projekt, welches sie bei der MOBI Grand Challenge eingereicht haben.

Wir sind zwar keine Experten für Quantencomputing, aber aus unserer Sicht wird die Technologie besonders beim Thema Sicherheit eine stärkere Rolle spielen, ob es um Data-Privacy-Themen oder vernetzte Ökosysteme oder das Internet der Dinge geht. Hier ist wohl vor allem die Geschwindigkeit von Bedeutung, da diese die Rechenleistung immens erhöhen und so bestehende Sicherheitsstandards schneller umgehen können wird. Für uns ist das eine ganz klare Infrastrukturtechnologie, um neue Anwendungsfälle und eine höhere Skalierbarkeit bei der Datenverarbeitung zu ermöglichen.

Häckel: Wir müssen uns auch fragen: Warum erhalten Themen wie Quantencomputing und KI momentan solch einen starken Auftrieb? Die Antwort ist: Datenverfügbarkeit. Die Algorithmen benötigen Daten, um lernen zu können. Daher häufen viele große Firmen – mehr oder weniger strukturiert – immense Datenmengen an, um sie letztendlich auszuwerten. Bei Fraunhofer spiegelt sich diese Entwicklung natürlich auch in den Forschungsthemen wider. Bei der International Data Spaces Initiative geht es u.a. darum, mit entsprechenden Anonymisierungsverfahren Daten auch unternehmensübergreifend sinnvoll nutzbar zu machen. Durch solche Projekte werden natürlich auch die daraus resultierenden Technologien stark in den Fokus gerückt.

Von der Idee zur Umsetzung

Zwar gehört die Nutzung diverser Technologien der letzten Jahre wie das Agieren in Sozialen Netzen, Cloud Computing und intelligente Prozessanalyse für viele größere Unternehmen bereits zum Repertoire. Allerdings gibt es sicherlich immer noch viele kleine und mittelständische Firmen, die nicht nur die Kosten scheuen, sondern sich denken: »Es hat bisher funktioniert – warum nicht weiter so?« Was würden Sie also den Unternehmen raten, die sich gewisse Maßnahmen nicht leisten können oder vor allzu radikalen Veränderungen zurückschrecken? Auf welchem Stand befinden sich momentan unsere Unternehmen in Deutschland?

Häckel: Diese Bedenken sind zwar berechtigt. Wir arbeiten oft mit KMU zusammen, aber hier merken wir: Häufig geht es um die Einstellung. Manche Unternehmen stellen seit 50 Jahren erfolgreich ein Produkt her, sind vielleicht sogar Weltmarktführer und können steigende Gewinne vorweisen. Dann fragen sie sich natürlich: Warum sollten wir etwas verändern?

Der Einwand ist als Momentaufnahme natürlich verständlich. Andererseits ist dieses Denken im Digitalzeitalter nicht mehr haltbar. Gerade im südostasiatischen Raum holen viele Firmen im Hinblick auf das technische Know-how innerhalb kurzer Zeit auf. Bei vielleicht aktuell noch geringerer Produktqualität sind dennoch die Voraussetzungen günstiger, was z.B. steuerliche Rahmenbedingungen oder das Lohnniveau angeht. Mittelfristig führt das zu einem harten Preiswettkampf, den man mit Standorten in Hochlohnländern kaum gewinnen können wird. Also stellt sich die Frage: Wie schaffe ich es, im Wettbewerb hervorzustechen? Zukünftig wird das eher über die zusätzliche Verknüpfung von Prozessen und Produkten mit digitalen Services funktionieren, um eine hybride Wertschöpfung zu erreichen. Also entfernt man sich vom alleinigen Produktfokus und geht mehr in Richtung datenbasierter Lösungsangebote, die vielleicht noch mit der Standortnähe verknüpft werden, um besser auf Kundenbedürfnisse eingehen zu können.

Am Fraunhofer FIT betreuen wir gerne KMU, gerade wenn es um die ersten Schritte geht. Das umfasst den Wissensaustausch zwischen Wissenschaftlern und Unternehmen, aber auch zwischen kleineren und größeren Unternehmen, etwa im Rahmen öffentlicher Projekte. Dadurch werden Kosten eingespart und es muss anfangs kein großes Know-how im Unternehmen vorliegen – dieses wird dann Schritt für Schritt gemeinsam aufgebaut.

Röglinger: Mit dem Blick auf Ökosysteme muss ich vor allem daran denken, dass digitale Technologien wie etwa Plattformen Markteintrittsbarrieren senken. So können selbst kleine Unternehmen mit vergleichsweise einfachen Möglichkeiten globale Kundschaft erreichen und sich eine wichtige Marktposition sichern, was bisher wesentlicher schwieriger war.

Bei vielen inhabergeführten Mittelständlern herrscht gerade durch Generationswechsel eine starke Aufbruchsstimmung. Es müssen allerdings mit Blick auf die integrierte Informationsverarbeitung noch viele Hausaufgaben gemacht werden. Hier merken wir als Fraunhofer-Institut, wie wichtig die Impulse von außen sind, die dann digitale Innovationsprozesse im Unternehmen anstoßen und begleiten. Bei unserer Plattform »Digitale Innovationswerkstatt« waren wir überrascht, wie groß der Andrang bzw. die Nachfrage bisher war, was uns diverse Aufträge beschert hat. Hier können wir als Wirtschaftsinformatiker, die aus einer techno-ökonomischen Sicht auf Innovation blicken, Hilfestellungen bieten und technologische Lösungen bis zur Umsetzung in der Praxis begleiten. Ab einem gewissen Projektfortschritt sorgen die Unternehmen dann dafür, dass sie selbst Stellen einrichten und die entsprechenden Prozesse übernehmen.

(mal)

Der erste Teil des Interviews ist am 28. November auf Fraunhofer-InnoVisions erschienen.

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Prof. Dr. Maximilian Röglinger
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT
Prof. Dr. Björn Häckel
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT
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