Komplexe Bauteile mit Lötkolben und Lötmittel fest und vor allem auch funktionsfähig miteinander zu verbinden, ist nicht nur eine Challenge, die sich Elektronikbastler*innen stellt. Auch in der Elektronikindustrie wird handwerkliches Lötgeschick gebraucht. Und hier sogar auf Expert*innenniveau. Spezielle Schulungszentren bilden die Fachkräfte für die Industrie aus und regelmäßig fort. Bisher durfte den Teilnehmer*innen kein Weg zu weit sein, um die erforderliche Expertise zu erlangen. Inzwischen absolviert manch einer seinen Lötführerschein aber auch einfach zu Hause.

Eine gut ausgebildete Hand und ein geschultes Auge – beziehungsweise jeweils zwei davon – sind die Voraussetzung dafür, dass Elektronikbauteile unterschiedlichster Art zuverlässig und über Jahre hinweg leisten können, wofür sie gebraucht werden. Denn obwohl inzwischen das Gros an Platinen, Chips und Kabeln maschinell bestückt und miteinander verbunden werden, ist die Expertise zertifizierter Spezialist*innen unersetzbar: Ihr prüfender Blick erkennt mangelhafte Löt-, Crimp- und Steckverbindungen und ihr handwerklichen Fertigkeiten gewährleisten das Einhalten der Qualitätsstandards – beim Nacharbeiten und Reparieren automatisiert gefertigter Bauteilen, aber auch bei der händischen Bestückung von Spezialteilen in Einzelanfertigung oder Kleinserie.

Das Handlöten und die individuellen Sichtprüfungen sind zwar aufwendig, aber zur Qualitätssicherung in vielen Bereichen nach wie vor essenziell – vor allem immer dann, wenn die Elektronik in sicherheitskritischen Bereichen eingesetzt wird: zum Beispiel in Assistenzsystemen oder bei autonomen Fahrfunktionen im Auto. Oder in der Raumfahrtindustrie. Eines der Schulungszentren, die dafür aus- und weiterbilden ist das zum Fraunhofer-Institut für Elektronische Mikrosysteme und Festkörper-Technologien EMFT gehörende Zentrum für Verbindungstechnik in der Elektronik (ZVE). Bereits seit 40 Jahren bildet das ZVE am Standort Oberpfaffenhofen Lötfachkräfte für die Elektronikindustrie aus. Die Kurse reichen dabei vom grundlegenden »Lötführerschein« über Trainings im Rahmen der Zertifizierungsprogramme der amerikanischen IPC (Association Connecting Electronics Industries) bis zu Weiterbildungen in Löt- und Verbindungstechnik für die besonders hohen Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen der Raumfahrtindustrie. »Als eines von europaweit sieben ‚ESA-Approved Certifications-Center‘ bieten wir ein spezielles Kursprogramm nach den ESA-Standards aus – bis hin zur Zertifizierung als ESA-Instructor«, erklärt Frank Ansorge vom Fraunhofer EMFT. Bis zu 1.000 Teilnehmer*innen aus Deutschland, Europa und aus aller Welt absolvieren jährlich ein ZVE-Training. Zumindest war dem so, bis die zur Eindämmung der Corona-Pandemie notwendigen Lockdowns und Kontaktbeschränkungen die bewährten Präsenzschulungen weitgehend unmöglich machten.

Praxis-Training auf Distanz

»Die Situation auszusitzen war keine Option. Denn der Bedarf bei unseren Partnern der Elektronikindustrie war ungebrochen. Um sie trotz aller Schwierigkeiten weiter kompetent zu unterstützen, brauchten wir ein anderes, ein vollkommen neues Schulungskonzept und dies nicht nur rasch, sondern vor allem auch auf einem Qualitätsniveau, das dem der Präsenztrainings in nichts nachsteht«, betont Ansorge. Die grundlegende Idee: Die Teilnehmer*innen müssen nicht mehr nach Oberpfaffenhofen bei München kommen, das ZVE bringt das Trainingszentrum zu ihnen – in die Unternehmen oder sogar ins Homeoffice. Und das inklusive der individuellen, nun aber kontaktlosen, Betreuung durch die Expert*innen.

Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen von Fraunhofer EMFT entwickelte das ZVE-Team dafür ein »Lötmobil«: Der mit Rollen versehene Korpus ist jeweils 1,2 Meter lang und hoch sowie 60 Zentimeter breit. Er passt also durch jede normale Türe und lässt sich gut transportieren, der Laderaum eines Minivans ist bereits ausreichend dafür. Am Einsatzort wird das Lötmobil geöffnet, das Stromkabel eingesteckt und mit einem LAN-Netzwerk verbunden. Nun bietet es einen kompletten Lötarbeitsplatz mit derselben Ausstattung, wie ihn das ZVE Trainierenden auch in seinem Schulungszentrum zur Verfügung stellt: Mit Lötstation und Mikroskop, Absauganlage und weiteren Sicherheitseinrichtungen sowie in den Schüben alle erforderlichen Werkzeuge und Arbeitsmaterialien. Zusätzlich sind in den Arbeitsplatz vier Kameras sowie zwei Bildschirme integriert. Ein Pendant der mobilen Arbeitsumgebung der zu schulenden Person nutzt auch der oder die Trainer*in. An einem der Bildschirme sitzen sich beide aufgenommen von den Frontkameras nun vis-à-vis gegenüber. Die zweite Kamera erfasst den Arbeitsbereich in der Übersicht, eine weitere ermöglicht einen Blick durch das Mikroskop und die vierte, eine Handkamera, ermöglicht es, Details in Großaufnahme auszutauschen. Die Auswahl und der Wechsel zwischen den verschiedenen Kameras, deren Aufnahme jeweils an dem zweiten Bildschirm angezeigt wird, erfolgt über ein Tastenfeld entweder durch den Trainierenden selbst oder per Fernbedienung durch den oder die Trainer*in. »Dank dieses Equipments lassen sich Durchführung, Analyse und Besprechung von Lotübungen eins zu eins so durchführen, wie wenn Lernende und Lehrende gemeinsam im Schulungszentrum zusammen wären«, sagt Ansorge.

Vom Ersatz zum Enabler

Präsenzschulungen sind mittlerweile zwar wieder möglich und werden am ZVE auch wieder angeboten. Das Lötmobil soll und wird aber nicht nur weiter im Einsatz bleiben, die damit verbundenen Möglichkeiten werden noch ausgebaut. » Wir haben mittlerweile mehrere der mobilen Schulungsmodule im Einsatz und wir arbeiten daran, die Remote-Schulungen weiter zu verbessern«, betont Ansorge. Das Feedback unserer Trainer*innen sowie Teilnehmenden und der Unternehmen habe gezeigt, welches Potenzial in dem mobilen Schulungskonzept steckt: Wenn in einem Unternehmen beispielsweise mehrere Mitarbeiter*innen regelmäßig eine Re-Zertifizierung benötigen, lassen sich lange Anfahrtswege und hohe Reisekosten vermeiden und die Schulungen flexibler in die Arbeitsprozesse des Unternehmens einbinden.

Zukunftsweisend ist aber nicht nur das mobile Üben, sondern auch das ebenfalls vom ZVE entwickelte Remote-Konzept für das zweite Kernelement der Kurse: die Vermittlung genereller Grundlagen. Für die Vermittlung der Theorie und das Vorführen von Praxisbeispielen sind nun ebenfalls keine Präsenzschulungen mehr zwingend nötig. Stattdessen können die Teilnehmer*innen auf spezielle Erklärvideos zugreifen. In Zusammenarbeit mit Pädagog*innen hat das ZVE-Team dafür spezielle Formate zur Aufbereitung und Präsentation entwickelt und mit den ZVE-Trainer*innen produziert. »Nun kann jeder der Auszubildenden Lernrhythmus, Lerntempo und Lernzeiten individuell gestalten. Er oder sie kann zum Beispiel den Vortrag stoppen, um sich Notizen zu machen, um das soeben Gelernte zu festigen oder einzelne Inhalte gezielt noch einmal oder auch mehrfach wiederholen«, erklärt Ansorge. Dieses flexible Online-Lernen habe sich als so sinnvoll erweisen, dass die Erklärvideos nicht nur in Verbindung mit dem Lötmobil eingesetzt werden. Auch die Teilnehmer*innen der Präsenzkurse können nun wählen, ob ihnen der Theorieteil als klassischen Unterricht oder in der Online-Variante vermittelt werden soll.

Remote-Schulung 2.0: wie live

Noch aber gibt es auch gute Gründe, warum die Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden vor Ort im Ausbildungszentrum subjektiv wie objektiv die letztlich bessere Lösung ist. Zum Beispiel wenn der oder die Trainer*in auf ein kleines, aber wichtiges Detail hinweisen will. In Präsenz reicht ein Fingerzeig, und die umstehenden Teilnehmer*innen sind persönlich dabei, wenn Vorgänge erklärt werden. Auf Distanz fehlt diese Unmittelbarkeit. Worten und Gesten könne nur über einen Bildschirm und Lautsprecher vermittelt werden, sodass der oder die Übende immer wieder zwischen Werkstück und Bildschirm hin- und herblicken muss. »Bei unserem neuesten Prototyp des Lötmobils nutzen wir deshalb Augmented Reality und bringen damit unser Trainerteam in einer holografischen Überblendung der Wirklichkeit als natürlich agierende Person direkt an den Arbeitstisch«, erklärt Ansorge. Um dies zu erreichen, arbeitet das ZVE-Team gemeinsam mit den Spezialist*innen für Extended Reality (XR) der niederländischen Forschungsorganisation TNO im Rahmen des Leistungszentrums »Sichere intelligente Systeme« (LZSiS) zusammen.

Der geplante Einsatz der erweiterten Realität zu Schulungszwecken bringt noch weitere Vorteile und dies sowohl für Kurse auf Distanz wie in Präsenz: Die Übenden können sich die Anleitungen zu einer Aufgabe frei im Blickfeld positioniert anzeigen lassen und beispielsweise per Eye-Tracking die nächste Folie aufrufen, ohne die Hände vom Werkstück nehmen oder den Kopf vom Arbeitsgegenstand wegdrehen zu müssen.

Auch in puncto Einsatzmöglichkeiten entwickeln Ansorge und sein Team ihr Lötmobil derzeit weiter hin zu einem universell einsetzbaren Remote-Schulungssystem: Die mobile Ausbildungsumgebung ist dabei nicht mehr fertig ausgestattet mit dem Löt- und Crimp-Equipment, sondern bietet zunächst lediglich das Kamera- und Bildschirm-Setting und einen leeren Werktisch. Hier lassen sich dann die Gerätschaften, Werkzeuge und Sicherheitseinrichtungen für handwerkliche Schulungen von Fachkräften verschiedenster Disziplinen einrichten. Zum Einsatz kommen die Remote-Schulungsplätze vom Fraunhofer EMFT unter anderem bereits für Analytik-Kurse in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV sowie für Aus- und Fortbildungsangebote im Rahmen der Fraunhofer-Academy.

 

(ted)

Keine Kommentare vorhanden

Das Kommentarfeld darf nicht leer sein
Bitte einen Namen angeben
Bitte valide E-Mail-Adresse angeben
Sicherheits-Check:
Neun + = 9
Bitte Zahl eintragen!
image description
Experte
Alle anzeigen
Dr. Frank Ansorge
  • Fraunhofer Academy
Weitere Artikel
Alle anzeigen
Intelligent lernen
Arbeit neu denken
Der Prof für zu Hause 
Veranstaltungen
Alle anzeigen
Stellenangebote
Alle anzeigen