Die Gameswirtschaft ist mit ihren knapp 30 Jahren noch jung, hat jedoch hierzulande inzwischen sowohl die Musik- als auch die Kinofilmindustrie überrundet. Für das erste Halbjahr resümierte der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware BIU kürzlich einen Umsatz von 845 Millionen Euro durch den Verkauf von PC-, Konsolen-, Handheld- und Mobile-Games sowie aus Einnahmen aus Online- und Browser-Geschäften – und prognostizierte für das Gesamtjahr einen einzigartigen Zuwachs von sechs Prozent im Vorjahresvergleich. Deutschland gilt laut BIU gar als bald wichtigster Produktionsstandort für Online- und Browser-Games. Und nimmt hinter Großbritannien bereits jetzt den zweiten Rang im europäischen Games-Markt ein. Studien stellen derweil klassische Annahmen über Gamer hartnäckig in Frage. Gründe genug für neue Fragestellungen vonseiten der Spieleforschung, etwa innerhalb der Games Master Class (GMC) von Prof. Dr. Jantke, Leiter der Abteilung Kindermedien am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT. InnoVisions sprach mit ihm im 2. Teil des Gesprächs (Teil 1) über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen für Wirtschaft und Wissenschaft.

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Laut BITKOM ist jeder vierte Spieler zwischen 50 und 64 Jahre alt. Der BIU erklärt, dass Frauen immerhin 44% der Gamer ausmachen. Und der britische Guardian stützt sich sogar auf eine Studie, die besagt, dass Frauen über 55 Jahre mehr Zeit mit Onlinespielen verbringen, als Männer zwischen 15 und 35. Gibt es in der GMC eine Berücksichtigung dieser Gamer-Vielfalt?

Was die Teilnehmer der GMC betrifft, akzeptieren wir nur Studierende in einem laufenden Hochschulstudium. Wir versuchen nicht, uns gewaltsam Altersgruppen zu öffnen. Was wir allerdings behandeln, ist genau diese Fragestellung: Unter welchen Bedingungen wirken Medien für wen? Und es ist erstaunlicherweise für viele Studierende ein bemerkenswerter Aha-Effekt, wenn sie zu der Erkenntnis kommen: Es gibt nicht einfach ein gutes Spiel. Oft ist die Annahme: Es gibt gute Spiele und es gibt schlechte Spiele. Und diese Annahme ist schon deswegen unpraktisch, weil sie nicht erklären kann, warum sich der Wert eines Spiels für einen Spieler im Laufe der Zeit ändert. 

Spiele stellen für die Menschen, die spielen, nicht allein Herausforderungen dar, sondern sie bieten eine Balance zwischen Selbstbestimmtheit und Unbestimmtheit. Unbestimmtheit kann durch implementierten Zufall kommen, wenn man würfelt. Unbestimmtheit kann auch daher kommen, dass andere Menschen involviert sind, von denen man nicht weiß, was sie wohl tun oder wollen. Und die Unbestimmtheit kann allein aus der Komplexität kommen: Man kann auch ein vollständig deterministisches System haben, das in Wirklichkeit gar nicht unbestimmt ist, aber so komplex, dass wir es nicht überschauen, und das uns unbestimmt erscheint. Diese Balance zwischen Selbstbestimmtheit und Unbestimmtheit in den Griff zu bekommen, das bedeutet eigentlich spielen. Und wer wirklich spielt, lernt dabei immer etwas. Also zumindest lernt er oder sie, den Grad der Selbstbestimmtheit zu erhöhen. 

Nun ist die Frage, ob für jemanden eine Balance überhaupt existiert, von den eigenen Kenntnissen, aber auch von eigenen physischen Fähigkeiten zum Beispiel abhängt. Wenn jemand ziemlich ungeschickte Finger hat, und das kann verschiedene Gründe haben, dann kann so jemand nicht richtig gut an der Konsole Prügelspiele spielen. Für solche Menschen sind 

Virtua Fighter

 oder 

Soul Calibur

 einfach keine guten Spiele. Wenn jemand schreckhaft ist und sein Reaktionsvermögen nicht so besonders gut ausgebildet ist, kann so ein Mensch nicht einmal 

Tetris

 spielen. Und andere Menschen, die die Ausdauer nicht haben, können keine Point-and-Click-Adventures spielen, in denen man immer ein Dutzend von Objekten aufsammeln und miteinander kombinieren muss, wie: »Binde Maulwurf an Gartenstiel, um aktiven Spaten zu bekommen« im Spiel 

Simon the Sorcerer

.

Die Balance muss für einen Menschen funktionieren. Und da man dabei etwas lernt, verschiebt sich die Balance. Man kann also ein Spiel in den Griff bekommen und es kann nach kürzester Zeit seinen Wert verlieren. Dadurch erkennt man erst, was in der Wirtschaft und bei den Game-Designern unter Wiederspielwert verstanden wird. Dahinter steckt das Problem, das Spiel so zu entwickeln, dass diese Balance möglichst lange gehalten wird. Und dies zu erkennen, dass also Spiele sehr individuell wirken als Medium, ist eine ganz wichtige Angelegenheit für alle Leute in der GMC. Wichtig ist, von solchen Formulierungen wegzukommen wie: »Ein Spiel bewirkt, dass …«, also zum Beispiel dass Menschen aggressiv werden, Freude daran empfinden, andere zu töten, oder was auch immer. Es gibt kein einziges Spiel auf dieser Welt, für das man einen determinierten Zusammenhang zwischen Spielen und Wirkung bei Menschen herstellen könnte. Das gibt es einfach nicht. Das ist einfach eine Aussage, die vom Nicht-Verständnis vom Spielen zeugt. Spiele als Unterhaltungsmedien wirken sehr unterschiedlich. Und das muss man erlebt haben, das erlebt man hier zum Beispiel sehr tiefgründig.

Der BIU erklärte kürzlich, dass die Stärke der deutschen Spieleforschung besonders im Bereich Online- und Browsergames liegt. Diese Spiele umfassen aber so unterschiedliche Typen wie komplexe Welten von MMOGs, einfache Casual Games, Genres wie Rollenspiele, Strategiespiele, Shooter. Was bedeutet also die Feststellung für deutsche Entwickler, die deutsche Forschung und damit für Studenten, die sich mit Games beschäftigen?

Es gibt sehr viele technologische Fragen im Kleinen, die man zu lösen lernen muss, damit man Träume auch wirklich praktikabel umsetzen kann. Wenn Sie sich komplexe Welten vorstellen, dann wollen die Spieleentwickler auf der einen Seite die Welt sehr attraktiv gestalten und auf der anderen Seite, dass möglichst ein Nachladen überhaupt nicht erlebt wird und die Spiele flüssig laufen, auch wenn vielleicht nicht der allerneuste Computer zur Verfügung steht. Und das ist in sich ein Widerspruch, der zwar mit der Entwicklung der Computerindustrie teilweise gelöst, aber mit den neu entstehenden Ansprüchen immer wieder neu aufgeworfen wird. Und da gibt es eine Vielzahl von technologischen Herangehensweisen. Wenn man sich zum Beispiel 

Drakensang Online

 ansieht, ein in Deutschland entwickeltes Spiel, das eine sehr attraktive Graphik hat, dann sind da sehr viele Details von der Art gemacht: Wir laden erst das eine, dann das andere, weil man dann nicht sieht, wie das andere geladen wird, wenn das eine schon da ist. In die Tiefe der Details kann man unwahrscheinlich viel Arbeit stecken. Und davor stehen wir, wenn wir mit Browsern etwas weltweit verbreiten wollen. Es ist ein bisschen anders bei den Spielen, die auf DVD ausgeliefert werden, weil die Vorstellung ist, auf älteren Computern laufen die halt nicht gut, die funktionieren eben auf den besten.

Darüber hinaus entsteht eine Vielzahl großer Fragen, von denen will ich einfach mal eine aufmachen: Es gibt da den Begriff des Interactive Storytelling: Wenn wir Geschichten erzählen wollen, dann brauchen wir eine bestimmte Führung in dem Sinne, dass die Menschen an den essentiellen Ereignissen der Geschichte auch vorbeikommen. Wenn wir Spielewelten machen wollen, die zum Verweilen, zum Erkunden einladen, ist das genau gegenläufig. Man kann einfach mal Folgendes versuchen: Man könnte sich mal in der wissenschaftlichen Welt umsehen, was die Leute im Interactive Storytelling eigentlich für eine Story halten. Wenn es eine Antwort gibt, dann muss sie weitere Antworten erlauben. Wenn man genau sagen kann, was es ist, die Geschichte, die man erlebt, dann muss man die Frage beantworten können: Was heißt es eigentlich, dass zwei verschiedene Spieler dieselbe Geschichte erleben oder dass zwei verschiedene Spieler verschiedene Geschichten erleben. Oder: Was heißt es, dass ein Spieler bei mehrmaligem Spielen dieselbe Geschichte erlebt oder eben verschiedene? Und wenn man hier hinschaut, sieht man, dass selbst die Grundbegriffe noch weitestgehend unklar sind. 

Wie ist es mit dem Umgang mit der Zeit? Es gibt viele einzelne Ideen in digitalen Spielen, bei denen man durch das Manipulieren von Zeit interessante Effekte mit hohem spielerischem Wert erzielt. Da gibt es Klassiker wie 

Prince of Persia: The Sands of Time

, bei dem man dadurch, dass man einen Dolch hat, mit dem man Sand der Zeit aufsammeln kann, die Gelegenheit hat, für eine ganz kurze Phase die Zeit im Spiel zurückzudrehen und damit seine Kampfbedingungen zu verbessern. Dann gibt es andere Spiele wie 

Braid

 etwa, ein Xbox-360-Jump-’n‘-Run-Spiel, bei dem man dem, was man gerade gemacht hat oder was einem entgegenkommt, ausweichen kann, indem man die Zeit bewusst zurückdreht und letztlich durch eine Zeitwelt navigiert. Da gibt es ein älteres Point-and-Click-Adventure, 

Shadows of Destiny

 heißt es im Englischen, 

Shadow of Memories

 im Deutschen, indem man durch Zeitreisen den Fortgang der Geschichte modifizieren und dadurch ganz unterschiedliche Geschichten erleben kann. Also allein da gibt es noch viel zu tun. Es gibt noch keine wirklich gute Systematik des Umgangs mit der Zeit. Das sieht man am Spiel 

Braid

 von Microsoft: Es ist interessanterweise so, dass nicht etwa mit aufsteigendem Level die komplizierteren Manipulationen mit der Zeit kommen, sondern es geht ein bisschen ungeordnet durcheinander. Man kann aus der Gestaltung des Spiels schließen, dass die Leute, die es entwickelt haben, zwar eine Menge Ideen hatten, aber keine wirklich systematische Ordnung der Zeitmanipulation.

Ich danke Ihnen in diesem Sinne ganz herzlich, dass Sie sich für unser Gespräch so viel Zeit genommen haben.

Ich hoffe einfach, dass die Tage breiter werden, damit wir mehr hineinkriegen. 

Sie haben ja einige gute Ideen geäußert, wie man Zeit und Zeitwahrnehmung verändern könnte. 

Das ist auch ein Thema, das mich persönlich fasziniert in meiner wissenschaftlichen Arbeit.

Es ist sehr schön zu merken, dass Sie so begeistert sind von dem, was Sie tun.

Ja, sonst könnte ich nicht arbeiten. Und außerdem: Ich habe riesiges Glück gehabt, mit dem Aufbau der Abteilung Kindermedien eine Aufgabe zu bekommen, die enormen Spaß macht. Und wenn man das dann noch mit den richtigen Leuten und dem richtigen Thema tut – mehr kann man sich doch nicht wünschen.

Interview: Lena Renz

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Interviewpartner
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Prof. Dr. Dr. Klaus Peter Jantke
  • arbeitete bis 2016 am Fraunhofer IDMT, ist jetzt jedoch nicht mehr bei Fraunhofer tätig.
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