Im Fraunhofer-Leitprojekt »Cognitive Agriculture« entwickeln acht Fraunhofer-Institute digitale Konzepte und Technologien für eine zukunftssichere Landwirtschaft. Eingesetzt werden neuartige Roboter, Sensorsysteme und Datendienste. Sie nutzen ein datenbasiertes landwirtschaftliches Ökosystem, den »Agricultural Data Space – ADS«. Ralf Kalmar vom Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE erklärt, wie Landwirt*innen und die Gesellschaft durch Smart Farming profitieren und warum die Schaffung eines vertrauenswürdigen Datenraums speziell für den Agrarsektor so wichtig ist.

Hallo Herr Kalmar, dass Landwirt*innen IT nutzen und sich von GPS bei der Feldarbeit unterstützen lassen, ist längst selbstverständlich. Trotzdem aber sehen Sie Bedarf, die Durchdigitalisierung der Landwirtschaft voranzutreiben.

Die Landwirtschaft ist in der Tat einer der Wirtschaftssektoren, in denen die Digitalisierung früh gestartet ist und digitale Technologien rasch etabliert wurden – vom Einkauf bis zur Verwaltung, auf dem Acker und in dem Stall. Allerdings ist es derzeit weitgehend so, dass jede Maschine und jede Software die Daten nur für ihren eigenen Zuständigkeitsbereich erfasst und nutzt. Die Systeme arbeiten nebeneinander und nicht miteinander. Dabei könnten die jeweils geschöpften Daten deutlich mehr Wissensertrag bringen, wenn sie miteinander verknüpft und intelligent ausgewertet werden.

Genau an dieser Stelle setzen Sie mit dem Leitprojekt »Cognitive Agriculture« an.

Wir nutzen die Abkürzung COGNAC, das spricht sich besser. Mit diesem Projekt entwickeln und testen wir neuartige Konzepte für einen landwirtschaftlichen Datenraum, der einen vertrauenswürdigen Austausch und eine Mehrfachnutzung der Daten ermöglicht.

Vorbild und gleichzeitig die Basis dafür sind die Konzepte der Fraunhofer-Initiative »International Data Spaces« und der »International Data Spaces Association«.

Richtig. Deren Architekturmodelle für einen gemeinsamen Datenraum sind allerdings vorrangig auf Industrieunternehmen ausgerichtet. In der Landwirtschaft gibt es dazu zwar einige Parallelen, aber eben auch deutliche Unterschiede. Kooperationen zwischen großen Industriekonzernen und ihren Zulieferern zum Beispiel funktionieren weltweit nach sehr ähnlichen Konzepten. In der Landwirtschaft dagegen haben wir ein sehr heterogenes Feld an Akteur*innen – sowohl was die Größe der weitgehend mittelständischen Betriebe angeht als auch die Art und Weise was, wie und mit welchen Kooperationspartnern sie produzieren. Deshalb entwickeln wir einen eigenen Agricultural Data Space (ADS). Wir bauen dabei auf den bisherigen Erfahrungen auf, passen das Konzept aber auf die Besonderheiten und Erfordernisse der Agrarbranche an ...

... wozu fundierte Kenntnisse aus dem landwirtschaftlichen Bereich grundlegend sein dürften. Ohne despektierlich erscheinen zu wollen: Sie wirken nicht, als hätten Sie schon beruflich länger im Stall gearbeitet oder die Äcker gepflügt.

Sieht man das? Nein, natürlich sind mein Team und ich auf den Umgang mit Daten und die Entwicklung von IT-Systemen spezialisiert. Deshalb erforschen wir das auch nicht allein, sondern entwickeln die digitalen Voraussetzungen für das Smart Farming der Zukunft im Rahmen eines Leitprojekts gemeinsam mit weiteren sieben Fraunhofer-Instituten. In Zusammenarbeit mit Fachverbänden und Landwirt*innen forschen Expert*innen der Fraunhofer-Institute seit vielen Jahren und in unterschiedlichsten Projekten an neuen Verfahren und Technologien für die Landwirtschaft. Diese Zusammenarbeit eröffnet uns zudem die Chance, die Entwicklung des ADS an laufende Projekte anzudocken. So können wir unsere Ideen praktisch umsetzen, gemeinsam mit den jeweiligen Projektergebnissen erproben und über Demonstratoren einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen.

Wo wir bei der Praxis wären. Wie lässt sich nun konkret aus dem Austausch landwirtschaftlicher Daten Mehrwert generieren?

Es gibt eine große Bandbreite an Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die Zeit, die Landwirt*innen im Büro einsparen, wenn sie Daten nicht mehr mehrfach erfassen und bearbeiten müssen. Die Daten, mit der sie in ihrer Betriebssoftware arbeiten, könnten dann automatisch auch für das Ausfüllen der Antrags- und Meldeformulare der EU genutzt werden – vorausgesetzt entsprechende Schnittstellen und Datendienste stehen endlich zur Verfügung. Weitere Möglichkeiten bieten Kognitive Dienste, die als Webservice angeboten werden und vorhandene Betriebsdaten für die Landwirt*innen neu verknüpfen und auswerten. Die Kolleg*innen am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM nutzen solche Daten zum Beispiel dazu, um den optimalen Zeitpunkt für Feldbearbeitungsschritte und die Ernte zu bestimmen. Und nicht zuletzt kann eine Nutzung der Daten über den Betrieb hinaus auch Mehrwert für die Wissenschaft und den Erhalt unserer Kulturlandschaften bieten. Etwa in Form von freiwilligen Datenspenden für die Durchführung von Forschungsprojekten oder im öffentlichen Interesse als Basisdaten für ein Monitoring der Artenvielfalt und der ökologischen Entwicklung einer Region.

Das bedeutet aber auch, dass Landwirt*innen ihre Daten aus der Hand geben müssen. Die Bereitschaft dafür dürfte gering sein, wenn Sie keine Datensicherheit garantieren können.

Und wir müssen erklären, dass ein Data Space keine Datenkrake ist, die beliebig viele Daten abzapft, speichert und nach Belieben verwendet. Um es klar zu sagen: Wir lassen die Daten da, wo sie sind. Die ADS-Plattform stellt lediglich die Verbindungen zu den Datenquellen bereit und sichert diese mit Maßnahmen des Datenschutzes ab. Hinzu kommt, dass wir Verfahren einführen, die den Betrieben die Souveränität über ihre Daten gewährleisten. Ein Konzept, das wir dafür erproben, sind Digitale Zwillinge. Das digitale Abbild kann bei einem Mähdrescher auf alle Leistungs- und Einsatzdaten der Maschine beziehungsweise bei einer Milchkuh auf Daten wie Milchleistung, Krankheitshistorie und Futterpläne zugreifen. Ihr Eigentümer aber kann für den digitalen Zwilling präzise festlegen und jederzeit ändern, ob, durch wen und wie das Einsehen der Daten erlaubt ist.

Die Kognitive Landwirtschaft, auf die ihr Projekt abzielt, erzeugt also Mehrwert für landwirtschaftliche Betriebe, indem sie ihre Daten neu verknüpft und besser nutzt ...

... und indem sie neuartige Technologien zur Gewinnung relevanter Daten einbringt, die den Landwirt*innen helfen können, Produktivität und Nachhaltigkeit ihres Betriebes zu steigern. Möglich wird das Beispielsweise durch den Einsatz von neuen Sensoren. Das Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM forscht dazu unter anderem an einem miniaturisierten Lachgassensor, der die Ausdünstung von Stickstoffdünger auf einem Feld misst. Dadurch lässt sich der Düngereinsatz flächenspezifisch präzise anpassen und so die Nitratbelastung des Bodens reduzieren. Das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF setzt Hyperspektralkameras ein, um den Gesundheitszustand von Feldpflanzen zu analysieren. Und durch die Auswertung künstlich erzeugter, seismischer Wellen ermöglicht das Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme IKTS den Blick in den Ackerboden bis zu einem Meter Tiefe. Mit den so gewonnenen Daten können landwirtschaftliche Betriebe die Bodendichte und -zusammensetzung erheblich detaillierter bei der Bearbeitungsplanung berücksichtigen. Gerade in Bezug auf die angestrebte Verringerung von Düngermitteln ist dieser Vorteil grundlegend.

Es gibt immer wieder Befürchtungen, dass derartige Entwicklungen aus einem Bauern oder einer Bäuerin einen Büroarbeitenden machen, der den Bezug zur landwirtschaftlichen Arbeit mehr und mehr verliert.

Dass es diese Befürchtungen gibt, ist natürlich verständlich. Aber sie sind unbegründet. Das Wissen und die Erfahrung der Landwirt*innen in ihrer Arbeit auf dem Acker und im Stall wird Smart Farming niemals ersetzen. Aber es ermöglicht zum Beispiel Anbaumethoden ohne Chemie, die bisher aus Zeit- und Kostengründen schlicht nicht möglich sind. Ein gemeinsames Team der Fraunhofer-Institute für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB und für Produktionstechnik und Automatisierung IPA beispielsweise hat einen Arbeitsroboter entwickelt, der selbständig übers Feld fährt, Beikräuter von Nutzpflanzen unterscheidet und diese im selben Arbeitsgang unterharkt oder auszupft. Damit solche Robotersysteme tatsächlich autark und 24x7 agieren können, erforscht das COGNAC-Projektteam am Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI Konzepte für Elektrifizierung und autonome Ladekonzepte. Alle diese Systeme, ganz gleich ob neuartige Sensorik, Automatisierung durch Feldrobotik oder kognitive Datendienste, bringen wir in einem Prototyp unseres Agricultural Data Space zusammen.

Ab wann können Landwirt*innen diesen Datenraum dann auch für ihren Betrieb nutzen?

Das wird wohl noch ein wenig dauern. Erst einmal entwickeln wir die Konzepte dafür und werden sie anhand unserer Referenzumsetzung erproben. Unsere Ergebnisse und Erfahrungen bringen wir in die Arbeit der International Data Spaces Association und den internationalen Standardisierungsgremien ein. Auf europäischer Ebene gibt es mit GAIA-X bereits eine Initiative für ein europaweites digitales Ökosystem sowie einen Expertendialog zur Spezifizierung eines »Common European Agricultural Data Space«. Die Bezeichnung unseres Agricultural Data Space ist also schon einen Schritt vorangekommen. Mit den Ergebnissen unseres Leitprojekts wollen wir auch inhaltlich einen wichtigen Beitrag dafür liefern.

(stw)

Datenökosysteme werden in diversen gesellschaftlichen Bereichen immer wichtiger - ob Medizin, Handel, Industrie: Die Anwendungsmöglichkeiten sind fast unbegrenzt. Im Zuge des Tags der Datenökosysteme am 26.11.2020 geben wir einen tieferen Einblick in dieses Forschungs- und Anwendungsgebiet. Mehr Informationen zum Thema und zur Anmeldung finden Sie hier.

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Ralf Kalmar
  • Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE
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