Die Vorteile digitaler Angebote können das Leben erheblich erleichtern: Diverse Supermärkte bieten Lieferdienste an, die Nachbarschaft verabredet und bespricht sich online, an faulen Ta-gen wird die Pizza bis vor die Haustür gebracht. Was für viele Stadtbewohner*innen zum täglichen Leben dazugehört, ist für die meisten Dörfler*innen noch Zukunftsmusik. Wie soll der einzige Supermarkt in der Umgebung auch liefern, wenn ihm die Kapazitäten fehlen?

Mit dem Projekt »Digitale Dörfer« möchte das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE auch in eher ländlichen Gegenden die Herausforderungen des täglichen Lebens mit Hilfe digitaler Angebote meistern. Die im Donnersbergkreis liegende Verbandsgemeinde Göllheim ist eine der für das Projekt auserkorenen Testregionen. Sie umfasst 13 eigenständige Ortsgemeinden, in denen insgesamt ca. 12.000 Menschen leben. Die Dorfbewohner*innen testen, inwiefern sich die im Projekt entwickelten digitalen Anwendungen in den Dorfalltag integrieren lassen. Im Austausch mit verschiedenen Dorfbewohner*innen ging InnoVisions den verschiedenen Ansichten auf das Projekt, seinen Chancen, Schwierigkeiten und Visionen auf den Grund.

Das Projekt »Digitale Dörfer« unterteilt sich in drei Phasen, in denen digitale Anwendungen zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen durch die Bürger*innen getestet wurden. Die erste Projektphase lief von Juli 2015 bis Dezember 2016 und legte das Augenmerk auf die Nahversorgung der Bürger*innen mit Lebensmitteln. Um diese mobiler zu gestalten, wurde der regionale Online-Marktplatz »BestellBar« in Verbindung mit einem flexiblen Mitbringservice, der »LieferBar«, etabliert. Bei BestellBar handelt es sich um einen Onlineshop, in dem der Einzelhandel seine Produkte präsentieren und zum Kauf anbieten kann. Werden Bestellungen getätigt, wird in der Anwendung LieferBar für die Bürger*innen angezeigt, welche Pakete aus dem Onlineshop noch auf ihre Auslieferung warten – auf freiwilliger Basis können Personen die Produkte aus dem Handel mitnehmen und bei ihren weniger mobilen Nachbar*innen abliefern. Das Konzept durchlief zwei vierwöchige Testphasen.

Hier geht es zur CybersicherheitSteffen Antweiler, Göllheims Bürgermeister , war von dem Projekt begeistert. Er erkannte das Potenzial, das beide digitalen Anwendungen für die Dorfgemeinde haben: Die im Ort vorhandenen Einkaufsmöglichkeiten nahmen im Laufe der letzten Jahre immer mehr ab, sodass Dinge für den alltäglichen Bedarf schwerer zugänglich wurden. Auch Frau Schauermann, die in der Kommune Göllheim für die Betreuung und Koordination des Projekts tätig war, berichtete, dass es im Ort nur noch einen Supermarkt gebe, der für die autofahrende Bevölkerung zwar gut, jedoch für Menschen mit eingeschränkter Mobilität kaum erreichbar sei. Ein regionaler Online-Marktplatz in Kombination mit einem flexiblen Mitbringservice ist also ein folgerichtiger Ansatz. Doch wie sieht die Umsetzung dieser Projektphase rückblickend aus? Welche Erfahrungen wurden gemacht und welche Rückschlüsse lassen sich ziehen?

Lieferdienst ohne Lieferant*innen

Die praktische Anwendung des Nahversorgungskonzepts gestaltete sich schwerer, als man zunächst angenommen hatte, so Schauermann. Den Handel davon zu überzeugen, die Produkte auf der Plattform bereitzustellen, war nach einiger Überzeugungsarbeit zwar gelungen, die Dauer der Testphase war dann jedoch schon zu stark vorangeschritten, um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. Eine weitere Problematik ergab sich hinsichtlich der angedachten Lieferung durch die Bürger*innen. In der Realität musste oft die Verwaltung Göllheims als Lieferdienst einspringen. Zusätzlich ergaben sich auch rechtliche Barrieren, etwa die Frage nach Bezahlmethoden oder die Einhaltung bestimmter Kühlketten bei der Lieferung von Lebensmitteln.

Auch Christa Graf, eine pensionierte Lehrerin in der Ortsgemeinde Eisenberg, konnte in der ersten Projektphase nicht überzeugt werden. Sie betrachtete vor allem die Nutzungsgründe der Anwendungen als kritisch. Ihrer Ansicht nach sei das Konzept vor allem für Bedürftige, also weniger mobile Menschen, konzipiert. Genutzt haben diese den Service jedoch kaum. Vielmehr haben die zwar mobilen, aber neugierigen Bewohner*innen sich die Brötchen vom Bäcker nach Hause liefern lassen.

Trotz des erhofften Mehrwerts für die Bewohner*innen und der Region haben die Resultate der ersten Testphase ernüchtert und am Ende, so Antweiler, stückweit sogar demotiviert. Die Problematik lag dabei aber vorrangig in der Organisation des Projektablaufes. Der Projektzyklus war deutlich zu kurz, die Anwendungen konnten nicht ausreichend getestet werden. Doch auch wenn die erste Projektphase laut Frau Schauermann kein optimaler Einstieg in das Projekt »Digitale Dörfer« war, zeigt die zweite Projektphase nun umso positivere Ergebnisse.

Heute, nach fünf Jahren Projektlaufzeit, ist die Zwischenbilanz nämlich eine ganz andere: Steffen Antweiler spricht von einem genialen Gewinn durch das Projekt, durch das die Prozesse im Dorf transparenter gestaltet wurden. Zusätzlich sorgte das Projekt für mehr Austausch zwischen den Bürger*innen und der Verwaltung. Was hat sich seit 2016 getan?

Der DorfFunk – ein soziales Netzwerk für Göllheim

In der zweiten Förderphase des Projekts stand insbesondere die Kommunikation zwischen den Einwohner*innen Göllheims sowie der Verwaltung im Vordergrund. Entstanden ist daraus der DorfFunk – eine App, die verschiedene Kanäle miteinander vereint. Sie enthält eine »Biete/Suche«-Funktion und ermöglicht den Dorfbewohner*innen durch weitere Funktionen einen zwanglosen digitalen Plausch. Einerseits werden nach dem gängigen Kleinanzeigenprinzip Verkaufsanzeigen geschaltet. Andererseits – und darauf soll der Fokus noch stärker gesetzt werden – wird auch die Nachbarschaftshilfe durch diese Möglichkeit gestärkt. So können sich beispielsweise handwerklich begabte Menschen melden, sobald jemand eine*n Monteur*in für neue Rollläden sucht. Zusätzlich finden sich aktuelle Neuigkeiten aus dem Dorf in der App. Auch Veranstaltungen wie kleine, private Weih-nachtsmärkte in der Hofeinfahrt gehören dazu.

Die pensionierte Lehrerin Christa Graf hat sich innerhalb eines Tages über den DorfFunk für das Interview gemeldet – sie liest ihn regelmäßig: So erfahre sie nicht nur, was in der eigenen Nachbarschaft los ist. Interessant sei für sie vor allem, was in den Nachbargemeinden passiert. So sei es viel einfacher, die eigene Hilfe anzubieten oder Informationen zu verbreiten. Gerade die Bündelung von Informationen, die sonst in den verschiedenen Gemeinden verstreut gewesen sind, schaffe einen besseren Austausch. Wünschen würde sich Frau Graf eine reibungslosere Funktionsweise der Anwendung. Vor allem aber erhofft sie sich eine regere Nutzung der App, die für ihre Generation so große Chancen bietet. Die Hürde, ein Smartphone zu benutzen oder sogar zu besorgen, sei allerdings noch immer zu groß – und die Überzeugungsarbeit in ihrem Freundeskreis daher aufwändig. Frau Mauer, die die Nachfolge von Frau Schauermann im Projekt angetreten hat, bietet für diesen Fall Sprechstunden an – technisch weniger versierte Dorfbewohner*innen können sich die App in dieser Zeit installieren und erklären lassen.

Ein Live-Testlauf des DorfFunks, der mit der Ortsvorsteherin von Zellertal Astrid Siegel durchgeführt wurde, sollte die Anwendungsweise der Applikation und Auffälligkeiten bei der Erstnutzung aufzeigen. Die größte Hürde lag für Frau Siegel im Anmeldeprozess. War dieser jedoch erst einmal bewältigt, zeigte sich schnell die Nutzungsvielfalt der App: öffentliche Beiträge, Privatnachrichten, themenspezifische Gruppen. Hinzu kommt, dass die App auf die eigenen Bedürfnisse angepasst werden kann. Push-Nachrichten oder Radiuseinstellungen lassen sich individuell gestalten, würden aber häufig kaum beachtet, ergänzte Julia Schauermann. Gerade der älteren Bevölkerung in Göllheim stehen noch immer technische Hürden im Weg, sodass sie die vielen Vorteile der digitalen Angebote noch nicht nutzen können oder wollen. Dabei werden diese über die private Kommunikation hinaus immer vielseitiger und interessanter für alle Bevölkerungsgruppen.

Denn nicht nur zwischen den Einwohner*innen von Göllheim kann die App vermitteln und verbinden. Sogar eine politische Partizipation wird ermöglicht. Seit September 2019 kann in der Anwendung »Sag’s uns« mit der Verwaltung kommuniziert werden: Kritik, Wünsche und Anliegen werden so ausgesprochen. Die gemeldeten Anliegen landen dann in der Anwendung »LösBar«, auf die die Mitarbeiter*innen der Verwaltung Zugriff haben. Auch Bürgermeister Steffen Antweiler nimmt regelmäßig an der Kommunikation über diesen Kanal teil. LösBar habe den Austausch mit den Bürger*innen von Göllheim transparenter und schneller gemacht: Das Ohr sei nach einer Verwaltungsreform in den 60er Jahren endlich wieder näher an der Gemeinde, ein Stück Bürgernähe sei wiederhergestellt.

»Digitale Dörfer« stellen sich neuen Herausforderungen

Seit Januar 2020 befindet sich das Projekt in der dritten Phase, die sich der Herausforderung stellt, das kommunalpolitische Engagement in ländlichen Regionen wieder attraktiver zu gestalten. Ziel ist es, eine datenbasierte Web-Anwendung zu schaffen, auf die kommunale Akteur*innen zurückgreifen können, um statistische Daten und Handlungsempfehlungen abzurufen. Politische Entscheidungen sollen so einfacher und fundierter getroffen werden können.

Das Projekt »Digitale Dörfer« in Göllheim zeigt, dass ländliche Gemeinden vor Herausforderungen stehen, die für viele Städter*innen schon längst vergessen sind. Soziale Netzwerke, Lieferservices, digitale Partizipation – in vielen Teilen Deutschlands eine Realität, an der in Göllheim noch gearbeitet werden muss. Doch auch, wenn technische Hürden und Mobilitätsprobleme noch nicht gelöst sind, wurde in Göllheim etwas geschafft, das in so vielen anderen Dörfern noch Zukunftsmusik ist: Ein digitaler Austausch zwischen den Bürger*innen und der Verwaltung, Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit, die Hilfsbereitschaft zwischen der Bevölkerung wird gefördert. Phase zwei ernüchtert nicht mehr, sie motiviert, noch besser zu werden.

(vho) (jst)

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