Ein anaphylaktischer Schock ist zum Glück sehr selten, kann für den Betroffenen jedoch innerhalb kurzer Zeit lebensbedrohlich werden. Notfallsanitäter müssen die entsprechenden Symptome daher schnell erkennen und sofort die richtigen Maßnahmen einleiten können. Das Problem dabei: Extremsituationen wie diese können nicht an Patienten geübt werden. Damit die Einsatzteams im Ernstfall dennoch gut vorbereitet sind und jeder Handlungsschritt sitzt, trainieren sie solche Einsätze jetzt in der virtuellen Realität mit speziell entwickelter Software.

Rettungseinsatz im Park: Schwer atmend sitzt ein Mann auf einer Bank, klagt nur schwer verständlich über Luftnot, Herzrasen, Schwindel und Übelkeit. Die Notfallsanitäter handeln sofort und untersuchen den Patienten sichtbar routiniert auf Symptome wie Schockzeichen, Quaddeln auf der Haut, Gesichtsröte und Schwellungen an Lippen und im Bereich des Rachens. Die Beschwerden des Mannes verstärken sich innerhalb kurzer Zeit weiter. Die Sanitäter setzen eine Spritze mit Adrenalin, legen eine Infusion an und kontrollieren den Kreislauf ihres Patienten über ein EKG und wiederholte Blutdruckmessungen. »Sehr gut. Richtig reagiert. Die Anaphylaxie (schwere allergische Reaktion) infolge multipler Bienenstiche ist eingedämmt, der Patient ist jetzt außer Lebensgefahr«, resümiert die Stimme ihres Ausbilders aus dem Off, während er der angehenden Notfallsanitäterin und ihrem Teampartner auf die Schulter klopft. Beide legen ihre Handcontroller auf den Boden und setzen die VR-Brillen ab. Sie befinden sich nun in einem ganz normalen Übungsraum. Der gesamte Rettungseinsatz im Park war lediglich ein Trainingseinsatz, den die angehenden Notfallsanitäter mit den Augen, Händen und Körpern ihrer Avatare in der virtuellen Realität (VR) absolviert haben. Nun bespricht der Ausbilder mit Hilfe der automatisch aufgezeichneten Daten den gesamten Einsatz nach. Bei einem solchen Debriefing werden nicht nur die einzelnen medizinischen Maßnahmen analysiert, sondern es wird auch thematisiert, an welchen Stellen die Teammitglieder sich noch besser miteinander abstimmen sollten.

Der virtuelle Patient der Lernumgebung kann eine Vielzahl an Symptomen zeigen wie Rötungen und Schwellungen der Haut. Bild: TRICAT GmbH

Im realen Rettungsalltag sind lebensbedrohliche allergische Reaktionen etwa nach einem Insektenstich - zum Glück - sehr selten. Die Notfallteams müssen aber auch auf solche und ähnliche selten vorkommenden Einsätze bestmöglich vorbereitet sein. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie dem Europäischen Sozialfonds der EU geförderten Projekt »EPICSAVE« entwickelten die Konsortialpartner eine Multiuser-VR-Umgebung, mit der angehende Notfallsanitäter und Mediziner auch solche Ernstfälle trainieren können. In dem Projekt arbeiten Wissenschaftler des Instituts für Visual Computing der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (Projektkoordinator), der Hochschule Hannover und des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE mit Anwendungs- und Industriepartnern zusammen. Fraunhofer IESE ist dabei federführend für das medizinische und didaktische Konzept sowie die Evaluation der VR-Umgebung in den Ausbildungseinrichtungen.

Praxisroutine für seltene Notfälle

»Aktuelle Spiele, - Simulations- und VR-Technologienermöglichen es uns, in virtuelle Welten einzutauchen und darin sehr realitätsnah zu agieren. Die beteiligten Bildungseinrichtungen der Malteser in Wetzlar und der Akademie für Notfallmedizin von Falck/G.A.R.D. in Hamburg nutzen dieses »VR-Training« als Ergänzung, um bei der Ausbildung von Notfallsanitätern möglichst praxisnah trainieren zu können«, sagt Dr. Thomas Luiz von Fraunhofer IESE. Der im Projekt unter technischer Leitung der TRICAT GmbH iterativ entwickelte Prototyp der Multi-Player-VR-Trainingssets verwendet marktübliche VR-Brillen und Handcontroller. Die Trainingssoftware ist so konzipiert, dass zwei Notfallsanitäter - wie im realen Rettungsdienst - auch in der virtuellen Welt direkt als Team zusammenarbeiten. Jeder von ihnen sieht die Szenerie mit den Augen seines Avatars. Über die Controller führen sie alle Handgriffe und Tätigkeiten aus. Analog zu einem realen Einsatz fühlen sie beispielsweise an den Handgelenken ihres Patienten den Puls, fassen ihn an und bringen ihn in die Schocklage oder reichen ihrem Partner die Spritze aus dem Notfallrucksack. »Im Ernstfall muss jede Bewegung in der Zusammenarbeit sitzen. Daher haben wir in der Trainingsumgebung auch berücksichtigt, dass sich die Avatare gegenseitig nicht nur sehen können, sondern bei ungünstigen Bewegungsabläufen auch behindern können«, erklärt Luiz.

In der virtuellen Realität trainieren angehenden Notfallsanitäter den Ernstfall - von der Inspektion des Mundraums bis zur Verabreichung von Medikamenten. Bild: TRICAT GmbH

Für die virtuellen Notfallmissionen kann der Ausbilder eines Lehrgangs in der Trainings-Software verschiedenste Krankheitsbilder simulieren. Der virtuelle Patient der Lernumgebung kann dafür eine ganze Reihe von Symptomen zeigen: unter anderem eine Blaufärbung von Hautpartien in unterschiedlichen Abstufungen, Ausschläge, Anschwellen der Lippen und der Zunge, Atemnot und asthmatische Atemgeräusche, Herzrhythmusstörungen und unterschiedliche Kreislaufzustände bis hin zum Kreislaufstillstand.

VR-Training ergänzt Ausbildungsprogramm

»EPICSAVE« soll künftig die Ausbildung zum Notfallsanitäter ergänzen. Das virtuelle Trainingssystem bietet zusätzliche neue Möglichkeiten, die bisherige Lehrmethoden nur schwer vermitteln können, zum Beispiel das Erkennen und Bewerten selten auftretender und hoch dynamisch verlaufender Symptomkonstellationen. »Generell soll und kann das VR-Training Übungen an echten Menschen oder einer menschengroßen Trainingspuppe nicht ersetzen«, sagt Luiz. Das System biete jedoch entscheidende Vorteile: In der VR-Umgebung lassen sich Einsatzroutinen mit geringem Aufwand sehr einfach auch mehrmals, in Varianten oder mit unterschiedlichen Umgebungssituationen durchspielen. Und danach ist die virtuelle Notfalltasche auf einen Mausklick wieder voll bestückt, während etwa bei Übungen an der Trainingspuppe immer wieder neue Verbrauchsmaterialien angeschafft werden müssen. Zudem können sich die Trainingspartner und Trainer, eine schnelle Internetverbindung vorausgesetzt, auch an verschiedenen Orten aufhalten, was die Flexibilität erhöht. 

Derzeit arbeiten die Projektpartner bereits an einer Erweiterung ihrer VR-Welt, um auch Notfallbehandlung bei Kindern trainieren zu können. Zudem soll noch ein dritter Akteur in die Trainingsumgebung eintauchen können, etwa in der Rolle eines Arztes. Die fachlichen Inhalte orientieren sich dabei an den aktuellen Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften. Das System könnte damit auch die Ausbildung von Medizinstudenten und Ärzten im Rettungsdienst und in Notaufnahmen ergänzen. (stw)

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Dr. Thomas Luiz
  • Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE
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