Mit dem Ausbau der dezentralen Stromerzeugung aus regenerativen Energien wird das europäische Stromversorgungssystem immer kleingliedriger. Die Steuerung der Stromnetze muss immer schneller und flexibler reagieren, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das erfordert nicht nur mehr Zusammenarbeit von Stromhandel und Netzbetrieb. Es betrifft auch die Verbraucher*innen – und das über Ländergrenzen hinweg. Nötig ist eine neuartige, intelligente Steuerungs- und Kommunikationsinfrastruktur für Europa. Ein EU-umspannendes Forschungskonsortium schafft die Voraussetzungen dafür.

Bei der Stromversorgung ist Europa längst eine Einheit: Über das europäische Verbundnetz (EV) fließt elektrische Energie quer durch die EU. Ländergrenzen scheint es auf den Stromautobahnen der Übertragungsnetzbetreiber nicht zu geben. Die stromtechnische Vernetzung aber ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das Prozedere, wie die grenzüberschreitenden Stromtransporte organisiert, gehandelt und gesteuert werden. Und dabei ist Europa noch immer eher ein Sammelsurium des vielfältigen Nebeneinanders als eine Gemeinschaft der Einheit. Das beginnt bereits bei den Strombörsen. Denn es gibt nicht nur eine, sondern mehrere: Zum Beispiel die EEX (European Energy Exchange), auf der vor allem Frankreich, Deutschland und die Beneluxstaaten aktiv sind und Nord Pool mit dem Handelsepizentrum Skandinavien. Jeder Handelsplatz ist gekennzeichnet durch eigene Varianten an Stromprodukten, eigene Regelwerke und durch einen eigenen IT-Kosmos. 

Parallel dazu arbeiten europaweit noch eine Reihe weiterer Handelsplattformen und IT-Systeme. Ihre Aufgabe ist es, die Zusammenarbeit regionaler Netzbetreiber und Energiedienstleister innerhalb der Einzelländer und zwischen benachbarten Staaten zu unterstützen, um die Versorgungssicherheit in ihren jeweiligen Stromnetzen auch en détail zu gewährleisten. »Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen der auf die regionalen Erfordernisse abgestimmten Vielfalt an Handelsplattformen und Kooperationssystemen ist die Stromversorgung in der EU aktuell sehr zuverlässig. Zukunftsfähig aufgestellt ist das europäische Energiesystem damit allerdings nicht«, betont Stephan Groß vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT. 

Europäische Vielfalt

Grund dafür ist die (noch) zu wenig ausgeprägte innereuropäische Stromgemeinschaft. Diese aber ist essentiell, um eine zentrale Zielvorgabe der EU-Staaten zu erfüllen: Sie wollen unabhängiger werden von Energieimporten aus Drittstaaten. Eine Aufgabe, die angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine sehr weit oben auf der europäischen Agenda steht. Nicht weniger gewichtig ist aber noch ein weiterer Grund: die nachhaltige Energieversorgung Europas und damit der massive Ausbau der (vermehr dezentralen) Stromerzeugung aus regenerativen Energien. Weil Wind und Sonne Strom jedoch nur nach Wetterlage liefern können (und nicht wie fossil befeuerte Kraftwerke nach Bedarf), wird es immer schwieriger und komplexer, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. »Um flexibel und schnell auf die zunehmende Volatilität des Stromangebots vor Ort reagieren zu können, brauchen wir künftig Informationen über die lokalen Stromverbräuche, die lokale Stromerzeugung und das Energiemanagement. Das geht hinunter bis zu einzelnen Straßen, einzelnen Haushalten und die jeweils eingesetzten leistungsstarken Stromverbraucher. Und um europaweit die Möglichkeiten haben, Erzeugungsüberschüsse oder Mehrverbrauch innerhalb kleinerer Gebiete und Regionen auszubalancieren, brauchen wir die Möglichkeit, Energietransfers auch über Ländergrenzen hinweg und sogar europaweit flexibel steuern zu können. Zum Beispiel, um sowohl das Solarstrompotenzial Südeuropas als auch die besonders in den Staaten im Norden Europas starke Windkraft möglichst intelligent zu verteilen und zu nutzen«, so Groß. Das von der EU initiierte Projekt »OneNet« will die Voraussetzungen dafür schaffen: mit einem durchgängigen und leistungsstarken, flexiblen Handels- und Managementsystem für das europäische Stromnetz – alle beteiligten Akteur*innen eingeschlossen.

Von lokal bis EU-weit denken

Das allerdings sind viele: von den Übertragungsnetzbetreiber*innen und den Betreiber*innengesellschaften der regionalen und lokalen Verteilnetze über den Energiehandel und Energieversorgungsunternehmen, Großkraftwerke und dezentrale erneuerbare Erzeugungsanlagen bis zu Unternehmen und den einzelnen Stromabnehmer*innen. Entsprechend vielfältig sind die Anforderungen an Kooperationsmöglichkeiten, die jeder und jede der Akteur*in für seine Rolle und seine Aufgaben im Energiesystem benötigt. »Ein Energiesystem, das EU-weit eine einheitliche, gemeinsame ›Sprache‹ spricht, lässt sich natürlich auch nur gemeinsam mit all diesen Beteiligten entwickeln«, so Groß. In dem vom Fraunhofer FIT geleiteten Forschungskonsortium arbeiten deshalb auch mehr als 70 Partner*innen zusammen. Neben den beiden europäischen Dachverbänden der Übertragungsnetz- und Verteilnetzbetreiber E.DSO und ENTSO-E zählen dazu auch zahlreiche größere und kleine Netzbetreibergesellschaften sowie IT-Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus ganz Europa. 

Denn meisten der beteiligten regionalen Partner*innen dürfe dabei entgegenkommen, dass OneNet zwar weitreichende Veränderungen im europäischen Stromsystem etablieren will, die seit Jahren bewährten IT-Systeme, Kooperationsplattformen und Handelsbörsen aber keinesfalls ersetzt werden sollen. »Wir wollen skalier- und transferierbare Lösungen entwickeln, um die bestehenden Systeme gemeinsam weiterzuentwickeln. Zum Beispiel, um dezentrale Erzeugungsanlagen und flexible Verbrauchsstellen in den Haushalten intelligent in das Stromnetz einzubinden. Und wir wollen Schnittstellen zwischen den Plattformen der verschiedenen Akteure schaffen und dadurch sowohl auf organisatorischer wie auf technischer Ebene eine durchgängige Zusammenarbeit ermöglichen - vom einzelnen Haushalt vor Ort bis zu den Stromtransfers im europäischen Maßstab«, erklärt Groß.

Lösungsfindung im Aktenstudium

Auch bei der Entwicklung der Systemerweiterungen und Systemverknüpfungen setzt das Forschungskonsortium auf vorhandene Systeme. Soweit irgend möglich (und sinnvoll) sollen vorhandene Infrastrukturen weiter genutzt und die jeweiligen Erkenntnisse und Lösungsvorschläge der Partner*innen vor Ort mit einfließen in die Gesamtkonzeption. »Wir nutzen dabei natürlich auch das Wissen und die Erfahrung aus zahlreichen Forschungsprojekten, die in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich durchgeführt wurden«, betont Groß. Eine zentrale Stellung im Projekt hat deshalb auch das Studium und die Analyse der Ergebnisse von anderen EU-Projekten der Horizon 2020 Forschungsinitiative. OneNet sei damit so etwas wie das Abschlussprojekt der gesamten Horizon-Forschung, das die verschiedenen Ansätze und Lösungen für die Energiezukunft Europas unter einem gemeinsamen Dach vereint. Ergänzend nutzen die Projektpartner*innen dafür auch die Ideen und Umsetzungskonzepte, die EU-weit im Rahmen nationaler Projekte oder von den Netzbetreibern selbst entwickelt wurden. In Summe verfügen sie damit über einen breiten Fundus an Best-Practice-Lösungen. Im Rahmen von OneNet werden diese nun gezielt weiterentwickelt und EU-weit im Rahmen transnationaler Kooperationen erprobt.

Konsensfindung im Diskussionsforum

Die zunehmende Dezentralisierung der Stromerzeugung und die Notwendigkeit, das regenerative Stromangebot und die Nachfrage der Stromabnehmer besser aufeinander abzustimmen, ist eine in ihrer Dimension einzigartige Herausforderung. »Bei der Suche nach Lösungen dafür wollen wir uns daher nicht auf die Expertise der OneNet-Projektpartner*innen beschränken«, erklärt Groß. Es sei vielmehr entscheidend, möglichst viele weitere Stromnetzakteur*innen mit ihren Erfahrungen und Bedarfen intensiv und von Anfang an in das Projekt einzubinden. Im Rahmen des Projekts entwickelten das Team vom Fraunhofer FIT gemeinsam mit Partner*innen dafür die Kommunikationsplattform »GRIFOn«. Über sie lassen sich zum Beispiel virtuelle Workshops mit bis zu einhundert Teilnehmern durchführen. Hier stellen die Projektpartner*innen ihre Konzepte vor, erarbeiten mit den Teilnehmer*innen in Kleingruppen konkrete Lösungsvorschläge und stellen diese dann im Gesamtplenum noch einmal zur Diskussion. Zusätzlich können sich Stromnetzakteur*innen und Forscher*innen innerhalb und außerhalb des Projektkonsortiums auf der GRIFOn-Plattform kontinuierlich über Zwischenergebnisse der OneNet-Projektarbeit informieren und sich mit eigenen Lösungsvorschlägen oder Stellungnahmen an der Konsensfindung beteiligen. »GRIFOn brachte einen wegweisenden, intensiven und sehr effizienten Networking-Prozess in Gang, insbesondere auch mit weiteren Forschungsinitiativen und Arbeitsgremien auf EU-Ebene wie ETIP SNET, BRIDGE oder OpenDEI«, betont Groß. 

OneNet: Strommarktdesign, IT-Architektur, Praxisdemonstration

Die insgesamt vierzehn OneNet-Arbeitspakete umfassen organisatorische und regulatorische Fragestellungen ebenso wie die Entwicklung einer konkreten IT-Architektur für die europaweite Vernetzung der Stromnetzakteure. Einheitliche definierte Stromhandelsprodukte, Lieferbedingungen und Bereitstellungsroutinen beispielsweise seien elementar für die Intensivierung länderübergreifender Stromkooperationen, so Groß. »Technisch entwickeln wir zudem eine Art System-of-Systems, das die bestehenden IT-Systeme aller am Stromnetz beteiligten Akteure und Akteurinnen über Schnittstellen verbindet.« Dieses gemeinsame Dach für das europäische Stromsystem schafft so systembruchfreie, leistungsstarke Verbindungen über die gesamte Kette hinweg von der Stromerzeugung und Stromhandel über die Netzbetreiber*innen aller Spannungsebenen bis zu den Stromverbraucher*innen. 

Wie das OneNet-System funktioniert und welche Kooperationsmöglichkeiten es von der lokalen bis zur multinationalen Ebene bieten kann, wollen die Projektpartner*innen noch in diesem Jahr mit vier Demonstratoren in der Praxis vorstellen und erproben. Die Versuchsinstallationen sind dafür in vier Cluster organisiert, die Länder in allen Regionen Europas umfassen. 

(stw)

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