Fernwärme gilt in Sachen Primärenergieeffizienz als vorbildlich. Sie ist zuverlässig und nutzt die bei der Kohle- und Gasverstromung ohnehin schon anfallende Wärme. Was aber passiert, wenn keine fossilen Stoffe mehr verbrannt werden müssen? Auch dann können die Fernwärmenetze in Deutschland weiter genutzt werden: für Industrieabwärme beispielsweise, für Geothermie oder Power-to-Heat von Solarstrom. Die Dekarbonisierung der Fernwärme erfordert aber auch, dass ihre Versorgungsnetze noch energieeffizienter und flexibler arbeiten als bisher. Dabei helfen intelligente Analysetools wie ML4Heat.

Der Schlechtpunkt ist das Maß aller Dinge. Zumindest für alle, die ein Fernwärmenetz betreiben. Denn er zeigt an, ab wann sich eine Unterversorgung der angeschlossenen Gebäude bemerkbar macht. Wer die Wärmeversorgung zu jeder Tages- und Jahreszeit gewährleisten will – und das selbst für Kund*innen, die ihre Wärme weit entfernt vom Einspeisepunkt beziehen müssen - sollte seine Schlechtpunkte kennen und im Blick behalten. Mit welcher Temperatur und in welcher Menge die Betreiber Wärmeenergie in ihr Netz einspeisen, orientiert sich deshalb grundsätzlich daran, dass auch bei den am schwierigsten zu versorgenden Verbrauchsstellen genug Wärme bereitsteht. Ein schwierig zu lösendes Problem ist das aber nicht. Zumindest noch nicht. Denn mit einem Anteil von rund 80 Prozent wird das Gros der Wärmeenergie von Kraftwerken zur Verfügung gestellt, die dafür Kohle, Öl oder Gas verheizen. Dank der Verbrennung fossiler Energieträger werden so hohe Temperaturen erzeugt, dass es vergleichsweise problemlos ist, das Wärmeverteilnetz mit so hohen Vorlauftemperaturen zu versorgen, sodass die beim Wärmetransport durch das Netz unvermeidbaren Temperaturverluste ausgeglichen werden. 

Fernwärme wird grün

In den kommenden Jahren aber wird sich die Fernwärmeversorgung grundlegend ändern. Wegen des Ausstiegs aus der Kohlenutzung und durch das deutliche Zurückfahren der Öl- und Gasverbrennung ändert sich auch das System der Fernwärme: Aus klassischer Wärmeversorgung durch die Verbrennung fossiler Energien wird - mithilfe regenerativer Wärmeerzeuger - grüne Fernwärme. Und dieser Wandel macht sich bereits bemerkbar! Rund 20 Prozent der Fernwärme stammen bereits heute aus erneuerbaren Quellen. Vom Geothermiekraftwerk und der Abwärmenutzung von Industriestandorten über mit Windstrom angetriebenen Großwärmepumpen bis zu Power-to-Heat-Anlagen, die den Strom von Solardächern zu ertragsstarken Zeiten in Wärmeenergie umwandeln. Das aber soll – geht es nach dem Willen der Politik – erst der Anfang sein. Denn neben den steigenden Kosten für die Gas- und Ölverbrennung dürften auch Fördermaßnahmen der Bundesregierung den Ausbau vorantreiben. 

Doch das Ersetzen der Primärenergie ist nur ein Teilschritt auf dem Weg zu einem umfassenden Einsatz einer günstigeren und vor allem ökologischeren Variante der Fernwärmeversorgung. Parallel dazu müssen auch die Steuerung und der Betrieb der Verteilnetze auf einen neuen Stand gebracht werden. Denn statt wenigen, großen Kraftwerken werden künftig immer mehr kleinere regenerative Anlagen verteilt über das Netz einspeisen. Und viele der Anlagen werden weniger hohe Temperaturen bereitstellen können als die fossilen Verbrennungskraftwerke. Zudem muss die Steuerung in der Lage sein, die Volatilität der Wetterverhältnisse bei Sonne und Wind möglichst auszugleichen, denn die meisten Erzeuger regenerativer Energien produzieren nicht so konstant wie traditionelle Verbrennungsanlagen. 

Wärmenetze flexibel und vorausschauend steuern

Weil die Zahl der Variablen steigt, müssen die Betreiber der Fernwärmenetze künftig deutlich umfangreicher darüber informiert sein, welche Leistungen ihre Rohrnetze wo bringen und wie die Bedarfe sich entwickeln. Wie beispielsweise wirken sich Änderungen bei den Vorlauftemperaturen auf den Zustand und den Verlauf der Temperaturniveaus des Netzes aus? Und wie wird sich der Wärmebedarf der angeschlossenen Haushalte in den einzelnen Strängen und Abschnitten des Leitungsgeflechts in den kommenden Stunden und Tagen entwickeln? 

Für Antworten auf diese und eine Vielzahl anderer Fragen sind detaillierte Fakten und zuverlässige Prognosen notwendig, die nun erstmals von einem speziell entwickelten, umfassenden Monitoring- und Analysetool bereitgestellt werden können. Das Softwaresystem ist Ergebnis des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projekts »ML4Heat«. Forscher*innen des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB haben dafür gemeinsam mit Spezialist*innen für Steuerungssysteme von Energieanlagen der KT-Elektronik Klaucke und Partner GmbH sowie der Fernheizwerk Neukölln AG und der Vattenfall Wärme Berlin AG zusammengearbeitet. »Unser Tool soll wirtschaftliche und energetische Optimierungen des Netzbetriebs der Bestandsinfrastruktur ermöglichen, von denen die Fernwärmeunternehmen ab sofort profitieren. Allerdings benötigen wir dazu Messdaten der Fernwärme-Übergabestationen, um die Wärmeabnahme zumindest der großen Häuser auswerten zu können.«, betont Projektleiter Dr. Thomas Bernard vom Fraunhofer IOSB. Dass das funktioniert hat, zeigen erste Erfahrungsberichte. 

Vom Messpunkt zur Gesamtsicht

Rund 40.000 Haushalte versorgt das Leitungsnetz vom Fernheizwerk Neukölln und etwa 1.3 Millionen Haushalte Vattenfall Wärme Berlin. In beiden Netzen sind Messstellen an den Übergabestationen zu den Gebäudeheizungen verbaut. Sie stellen Daten zur Verfügung, durch die man ermitteln kann wie viel Wärmeenergie von dem jeweiligen Haushalten aus dem Netz entnommen wird und wie hoch die gelieferte Temperatur ist. Zusätzlich installiert sind Temperatur- und Durchflusssensoren an den Einspeisepunkten sowie an Übergabestationen zwischen einzelnen Netzabschnitten und Leitungssträngen. »Auf Basis dieser bereits vorhandenen Messdaten kann unsere Software eine Gesamtsicht auf das Fernwärmenetz erstellen, die detaillierte Auswertungen zu den Temperaturverlusten und dem Zustand der Wärmeversorgung zu verschiedensten Einspeise- und Abnahmesituationen ermöglicht«, erklärt Bernard. Möglich werde das durch Algorithmen, die die Daten der einzelnen Sensoren zueinander in Beziehung setzen und anhand der Fülle historischer Messwerte „lernen“, wie diese zusammenhängen. Dieses Maschinelle Lernen schafft die Grundlage für immer bessere Bedarfsprognosen anhand der aktuellen Messwerte – und somit letztlich genau die Informationen, um das Transportnetz so anzupassen, dass es kostengünstig möglichst optimale Leistungen bereitstellt. Hier nutzt man aus, dass sich mit Maschinellem Lernen abschätzen lässt, wann welches Haus welche Leistung benötigen wird.

Zusätzlich können die Betriebsverantwortlichen der Fernheizwerk Neukölln AG und der Vattenfall Wärme Berlin AG mit ML4Heat etwaige Schwachstellen in der Infrastruktur leichter ausfindig machen. Zum Beispiel solche, bei denen zwischen den Übergabepunkten in einem Leitungsabschnitt ungewöhnlich hohe Temperaturverluste auftreten, wie sie etwa durch eine schadhafte Dämmung an den Rohren verursacht werden. »Weil die Software die Netzperformance kontinuierlich überwacht, kann sie eine Anomalie an einem Messpunkt sofort erkennen«, sagt Bernard. Und daraus widerrum lasse sich rückschließen, dass unter Umständen das Ventil einer Übergabestation nicht mehr einwandfrei schließt. 

Das Analysetool ML4Heat bereitet die Messdaten der Fernwärme-Übergabestationen transparent auf. Wärmenetzbetreiber können dadurch Schlechtpunkte im Leitungssystem kontinuierlich monitoren und den Netzbetrieb wirtschaftlich und energetisch optimieren. Bild: Fraunhofer IOSB

Netzbetrieb optimieren

ML4Heat ist mehr als ein Tool, es ist ein umfangreicher Werkzeugkasten. Eines der Instrumente in diesem Kasten ist eine Software, die grundlegende Informationen liefert, um den Betrieb der Wärmeinfrastruktur vorausschauend zu planen und die Energieeffizienz der Wärmeversorgung zu steigern. Die Analysesoftware nutzt dazu unter anderem Wettervorhersagen. In Kombination mit dem erlernten Wissen über das Wärmeabnahmeverhalten der Haushalte errechnet das System Prognosen über den zu erwartenden Wärmebedarf der Abnehmer*innen. Daraus leitet das Programm konkrete Empfehlungen für die Betriebsverantwortlichen ab. An einem milden Wintertag etwa könnte ein Vorschlag des Assistenzsystems lauten, dass die Vorlauftemperatur im Bereich eines bestimmten Leitungsstranges für die nächsten Stunden um einige Grad Celsius gesenkt werden kann, ohne die Versorgungssicherheit aller angeschlossenen Haushalte zu verringern. Die Netzbetreiber können so also Primärenergie einsparen. Umfangreiche Auswertungen der Netzperformance in der Tages-, Wochen- oder Saisonperspektive liefern den Betriebsverantwortlichen zudem wichtige Erkenntnisse, um Einspeisung, Wärmetransport und Wärmebedarf unter wirtschaftlichen und energetischen Gesichtspunkten optimal aufeinander abstimmen zu können.

Piloteinsatz und Übertragbarkeit

»Die Erfahrungen beim Fernheizwerk Neukölln AG und der Vattenfall Wärme Berlin AG zeigen zwar, dass die Analysen wichtige Erkenntnisse liefern, um die Performance gerade im Bereich von Schlechtpunkten und Leistungsabschnitten mit hoher Abnehmerdichte besser bewerten und trotz weniger Energieeinsatz eine sichere Versorgung gewährleisten zu können«, sagt Bernard. Die Ergebnisse hätten aber auch die Grenzen des Systems aufgezeigt: So ist etwa die Messgenauigkeit der derzeit in den Netzen verbauten Wärmesensoren zu niedrig, um aus der Temperaturdifferenz zwischen den Übergabestationen auch kleinere Leckagen oder Schäden an den Rohrleitungen zuverlässig ableiten zu können. »Generell aber liefert das System erhebliche Mehrwerte und könnte auch in anderen Fernwärmenetzwerken als Assistenzsystem eingesetzt werden«, so Bernard. Voraussetzung dafür sei allerdings eine Ausstattung mit Messsensoren zumindest an den meisten Einspeise- und Übergabestationen. 

Die beiden Pilotnetze seien bereits gut ausgerüstet und können durchaus als Benchmark dienen. »Viele andere der bestehenden Fernwärmenetze in Deutschland müssen für den Einsatz unseres Systems zwar noch messtechnisch nachgerüstet werden«, so Bernard. Entsprechende Modernisierungen der Infrastrukturen stehen im Zuge der aktuellen Maßnahmen für die Wärmewende in vielen Fällen ohnehin auf der Agenda. Zudem bereiten Bernard und seine Kolleg*innen derzeit weitere Forschungsaktivitäten vor, bei denen sie unter anderem klären wollen, welche Mindestanforderungen an die Messtechnik ausreichend sind, um ihre Monitoring- und Analysesoftware einzusetzen. Ziel der Forscher*innen ist es, dass ihr System möglichst in den gesamten 30.000 Kilometer Fernwärmeleitungen Deutschlands dazu beiträgt, die sechs Millionen daran angeschlossenen Haushalte noch sicherer, wirtschaftlicher und klimaschonender mit Heizwärme zu versorgen.

(ted)

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  • Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB
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