Mit InnoVisions spricht Prof. Dr. Boris Otto über Digitalisierung, Datensouveränität, seinen Werdegang – und den großen Vorteil des Fraunhofer-Verbunds IUK-Technologie.

Herr Otto, mit 21 Instituten und mehr als 4000 Beschäftigten ist der IUK-Verbund der größte Institutsverbund innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft. Was macht die IUK-Institute bei Fraunhofer so besonders?

 

Unser Verbund ist wie ein Spiegelbild der vielen Industriesektoren und damit auch Ausdruck dessen, dass die Bedeutung von digitalen Technologien eigentlich fast in jedem Sektor und jeder Branche stetig steigt. Im Unterschied zu anderen Verbünden betreiben wir einerseits originäre Forschung für die Software-Industrie. Zusätzlich spielt aber die digitale Transformation in allen anderen Branchen ebenso eine immer größere Rolle. Das wird auch in der Struktur unseres Verbunds deutlich. Einerseits haben wir Mitgliedsinstitute, die bestimmte Forschungsfelder im Kontext der IUK-Technologie prominent besetzen, andererseits aber auch solche, die einen sehr starken Anwendungsbezug haben. Insofern nehmen wir im Verbund die Doppelrolle ein, unser originäres Forschungsfeld voranzubringen und dabei Ergebnisse für die Software-Industrie zu entwickeln, auf der anderen Seite sind wir auch in fast jeder anderen Branche sehr tief und immer intensiver involviert.

 

Wie gliedert sich der Verbund mit seinem Querschnittsthema innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft ein, wenn es doch auch andere Verbünde wie etwa solche für Medizin, Produktion, Energie oder Mikroelektronik gibt? Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

 

Laut unserem satzungsgemäßen Auftrag müssen wir die Ergebnisse unserer Forschung immer wieder in die Anwendung bringen. Deshalb kooperieren wir regelmäßig mit denjenigen Verbünden, die nur eine bestimmte Anwendungsdomäne repräsentieren, wie zum Beispiel in den Bereichen Life Science oder Produktion. Was mir persönlich sehr nahe liegt, ist die Frage der Datenräume in diesen Domänen. Dort sieht man, dass im Bereich der strategischen Initiative Data Spaces – die aus unserem Verbund hervorgegangen ist – durch Institute anderer Verbünde Vertikalisierungsinitiativen vorangetrieben werden. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Kooperationsoptionen und Opportunitäten. Ein Beispiel ist das Thema Next Generation Computing oder auch Quantum Computing. Hierbei arbeiten wir sehr stark mit den Kollegen und Kolleginnen aus der Physik zusammen, weil wir das selbst gar nicht allein leisten könnten.


 

Worin sehen Sie die spezielle Stärke des IUK-Verbunds? Was schafft der Verbund als Mehrwert im Vergleich zu den Leistungen der einzelnen Institute?

 

Grundsätzlich bin ich ein Freund der Eigenständigkeit der Mitgliedsinstitute. Forschung und Innovation müssen lokal und »Bottom-up« erfolgen. Außerdem sollte Kreativität in den Teams herrschen und ich glaube, dass Einhegung durch übergreifende Guidelines oder Richtlinien kontraproduktiv wären. Das heißt aber nicht, dass man nicht zusammenarbeiten sollte. Das Gegenteil ist der Fall, denn wir sind als Fraunhofer einzigartig. Auf jedem wichtigen Gebiet haben wir überall an den Instituten eine oder mehrere Koryphäen! Wenn es uns in Zukunft noch besser gelingt, diese Exzellenz zu einem größeren Ganzen zu bündeln, gewinnen auch die einzelnen Institute. Wir können Integrationseffekte und Synergieeffekte nutzen und sind dadurch in der Lage, die ganz großen Themen zu adressieren. Und wir können uns außerdem Aufwendungen in der Projektakquise teilen. Es gibt eine ganze Reihe von Vorteilen. Und daher ist für mich der Verbund der Ort, wo diese institutsübergreifende Zusammenarbeit geschieht.

 

Es gibt in Europa Forschungsorganisationen wie Inria, VTT oder TNO, die in ähnlicher Art und Weise wie Fraunhofer operieren. Wie gliedert sich der IUK-Verbund in diese Gruppe ein?

 

In der wissenschaftlichen Forschung lernt man durch Austausch, Interaktion und Kooperation. Deshalb pflegen wir als Verbund sehr engen Kontakt zu den genannten Organisationen. Alle haben ähnliche Aufgaben und stehen vor den gleichen Herausforderungen. Bei Gaia-X und der International Data Spaces Association (IDSA) sitzt Henk-Jan Vink, mein Kollege von TNO, mit mir im Board of Directors. So können wir Dinge gemeinsam vorantreiben und unsere Kompetenzen ergänzen sich. Man kann sich auch viele Dinge abgucken: Die konsequente Ausrichtung an Roadmaps von TNO würde auch bei unserem Verbund die inhalts- und zielbezogene Zusammenarbeit fördern.

 

Im IUK-Verbund geht es in erster Linie um das große gesellschaftliche Thema Digitalisierung. Wie würden Sie die aktuelle Situation in Deutschland beurteilen?

 

Die Digitalisierung ist nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern sie hat auch betriebs- und volkswirtschaftliche Implikationen, weil sich neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsfaktoren für etablierte Unternehmen ergeben. Insbesondere bei Fragen des Datenschutzes und der Datensouveränität wird deutlich, dass Digitalisierung ein gesamtgesellschaftliches Thema ist, das nicht nur die Arbeitswelt verändern wird. Deshalb müssen wir die Thematik multidisziplinär und multidimensional betrachten. Wir müssen uns mit Experten der Ethik und Makroökonomie zusammentun, weil die Frage des digitalen Wandels nicht nur technisch zu lösen ist. Wir haben in Deutschland auch das Problem, dass in zu vielen Fällen die Software faktisch als Abfallprodukt des Maschinenbaus oder der Elektrotechnik gesehen wird und man ihr damit als Wertschöpfungsfaktor eine eigene Daseinsberechtigung abspricht. Nichts könnte zurzeit falscher sein: Mein persönliches Ziel ist die Stärkung der Software-Wertschöpfung in Deutschland. Dafür ist der Verbund IUK-Technologie hervorragend aufgestellt, weil wir natürlich Anwendungsdomänen im Blick haben, aber natürlich zuvorderst Informatikforschung betreiben.

Gibt es weitere Baustellen, die bearbeitet werden müssen, um die Digitalisierung auf den Weg zu bringen?

 

Wir haben in Deutschland kein Problem damit, gute Ideen zu entwickeln. Wir haben – offen gestanden – wahrscheinlich sogar mehr, als wir umsetzen könnten. Wir haben auch kein Problem damit, gerade bei solchen gesellschaftsrelevanten Themen Konsens zu erreichen. Ein gutes Beispiel sind die Plattformen »Industrie 4.0« und »Lernende Systeme«. Man vergisst, dass es diese Konsensprozesse nicht in jedem Land gibt. Wir haben aber auch zu viele Gründe, nicht ins konkrete Doing zu kommen. Da vergeben wir Chancen. Ich glaube, wir sind sehr bedacht darauf, schon im Vorfeld zu überlegen, was alles nicht funktionieren könnte. Aber die großen Themen können wir eben nicht vorab am Reißbrett durchplanen, sondern wir werden uns darauf einstellen müssen, zu lernen, während wir etwas tun. Das fällt uns in Deutschland sehr schwer. Wir müssen einfach schneller in die Umsetzung kommen.

 

Schaut man zurzeit in die Öffentlichkeit, kann man beobachten, dass mit dem Thema Digitalisierung viele Ängste verbunden sind. Inwieweit ist das auch ein entscheidender Faktor?

 

Es gab schon immer technologischen Wandel. Und es ist dabei nie eine gute Idee gewesen, zu versuchen, den Status quo zu zementieren. Ich würde mir diesbezüglich mehr Mut wünschen. Dazu gehört es auch, dass man bestimmte Dinge verlernt – beispielsweise weiß niemand mehr, wie die Haushaltselektronik im Detail funktioniert. Wir haben uns daran gewöhnt und darauf eingelassen, neue Wege zu gehen.

 

Der IUK-Verbund deckt neben den Themenschwerpunkten Datenmanagement und Datenökonomie auch Gebiete wie digitale Medien, Cybersicherheit und Quanten-Computing ab. Hilft Ihnen Ihr persönliches Know-how dabei, diese unterschiedlichen Domänen zu verstehen und unter einen Hut zu bringen?

 

Niemand kann auf zu vielen Feldern gleichzeitig exzellent sein, das ist einfach unmöglich. Ich kenne mich in einigen Dingen gut aus, habe in anderen Bereichen ein grundlegendes Verständnis und bringe dann auch die Neugier mit, mich dort einzuarbeiten. Wichtig ist aber vor allen Dingen, dass man zusammenarbeitet und dadurch viele einzelne Kompetenzen bündeln kann.

 

Sie sitzen in vielen Gremien und Vorständen, wie zum Beispiel bei Gaia-X und der International Data Spaces Association. Wünschen Sie sich manchmal wieder das Forschungslabor zurück, das Experimentieren und das Ausprobieren?

 

Das ist ein Punkt, der leider nicht so gut funktioniert, wie ich es mir wünschen würde. Ich schaffe es aber, mir die Zeit zu nehmen, um den Themen, die mich wirklich interessieren, nach wie vor auf den Grund zu gehen. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass man ein Gebiet haben muss, indem man wirklich up to date ist und für das man eine Leidenschaft entwickelt. Bei den anderen Themenschwerpunkten muss man das Verständnis mitbringen, um sie in ihrer Tragweite und auch in ihren grundlegenden Prinzipien begreifen zu können. Aber man sollte ein Kerngebiet haben, das halte ich aus Gründen der Authentizität für essenziell.

 

Sie sind nicht vom Forscher direkt zum Manager geworden, sondern waren zwischenzeitlich auch Berater in der Softwareindustrie und haben sogar ein Startup gegründet. Gab es auf diesem Weg eine Station, die Sie am besten auf Ihre jetzige Rolle vorbereitet hat?

 

Ich konnte auf jeder Station etwas mitnehmen und mir von meinen Vorgesetzten und Kollegen verschiedene Dinge abschauen. Der Wechsel zwischen Industrie, Forschung und den Ingenieursdisziplinen einerseits und der BWL andererseits ist ein Aspekt, den ich immer sehr attraktiv fand. Ich bin davon überzeugt, dass die drei Bereiche Forschung, Innovation und Unternehmertum zusammengehören. Dafür ist Fraunhofer der perfekte Ort und liefert in Deutschland auch einen Standortvorteil.

 

Wie schafft es der Fraunhofer IUK-Verbund, digitale Innovationen in die Anwendung zu bringen und zu vermarkten?

 

Ich halte es für sehr hilfreich, dass wir in unserem Fraunhofer-Modell aufgerufen sind, Gelder aus der Industrie zu erlösen. So entsteht ein Nachweis für den Wert, den wir stiften und die Erfolge, die wir erzielen. Nach meiner Auffassung ist dieses Modell auch für junge Forscherinnen und Forscher sehr reizvoll, da man sehr deutlich sehen kann, dass die Innovationen, die man hervorgebracht hat, auch eine Nachfrage am Markt generieren. Digitale Technologien sind häufig Grundlage für andere wertstiftende Produkte oder Dienstleistungen und landen deshalb nur mittelbar beim Kunden. Diesen Punkt können wir jedoch sehr gut adressieren, wenn wir uns mit anderen Instituten und Verbünden zusammenschließen, um gemeinsam diese Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Wir müssen auch – insbesondere aus Sicht des Fraunhofer IUK-Verbunds – unsere Kraft nutzen, die Bedeutung der Software-Industrie in Deutschland zu stärken. Wir müssen uns dabei permanent weiterentwickeln, um mit den führenden Unternehmen in diesem Umfeld auf Augenhöhe mitspielen zu können.

 

Die Fraunhofer-Gesellschaft forscht nicht nur für die Industrie, sondern vor allem auch zum Nutzen der Gesellschaft. Dafür braucht es die fachliche Expertise auf der einen Seite und es braucht auch grundsätzliche Werte, um gesellschaftlich voranzukommen. Welche nicht-technischen Werte sind Ihrer Ansicht nach hier die entscheidenden?

 

Wir haben mittlerweile sehr viele Themen wie Datensouveränität und Datenschutz, die gesellschaftspolitisch relevant sind. Hier geht es auch um das Selbstbestimmungsrecht des Individuums, wenn wir denjenigen die Entscheidungs- und Handlungsmacht zusprechen, die die Daten erzeugen, die Daten besitzen und denen die Kosten bei der Bewirtschaftung und Bereitstellung dieser Daten entstehen. Das gilt ganz besonders, wenn die Daten einen gewissen Qualitätsstandard aufweisen sollen. Wir beobachten jedoch momentan monopolisierende Effekte, die zu Gravitationszentren von Daten führen, bei denen der einzelne Datengeber völlig unwichtig ist und dieses Selbstbestimmungsrecht nicht ausüben kann. Ich glaube jedoch daran, dass wir bei Themen wie Data Spaces und Datensouveränität einen Beitrag zur Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums leisten können, beispielsweise mit Initiativen wie den International Data Spaces (IDS) oder Gaia-X. Hier haben sich Konsortien und eine Community gebildet, die sich aus den verschiedensten Beteiligten zusammensetzen und sich einem gemeinsamen Ziel verschrieben haben. Ich finde die wissenschaftliche Forschung auch deshalb so attraktiv, weil sie am Ende immer auch die Suche nach der Wahrheit ist. Das klingt vielleicht pathetisch, aber Wahrheit ist ein Gut, das unzweifelhaft und klar zu verstehen ist. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen ist es von unerlässlicher Bedeutung, Erkenntnisgewinn und nachvollziehbares präskriptives Wissen zu schaffen. Damit leisten wir als wissenschaftliche Forscherinnen und Forscher grundsätzlich einen Beitrag, der über Technologie hinausgeht. Abschließend will ich noch sagen, dass Forschung ein Suchprozess ist. Dinge, die man glaubt, fix zu wissen, muss man immer auch hinterfragen. Wir als Verbund und auch als Fraunhofer insgesamt müssen uns immer wieder neu prüfen und unser Handeln infrage stellen, um uns weiterentwickeln zu können.

(swi)

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Prof. Dr. Boris Otto
  • Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST
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