Die Geschichte der Informations- und Kommunikationstechnik (IUK) in der Fraunhofer-Gesellschaft ist von Beginn an von den Anwendungsgebieten in der Industrie geprägt. Schon früh bedienten sich immer mehr Fraunhofer-Institute pragmatisch der Komponenten, die in der Grundlagenforschung entwickelt wurden, mussten aber Systemlösungen liefern, die weit über das hinausgingen, was die Informatik liefern konnte. In der Verbindung von IUK mit Mikroelektronik, Produktions-, Nachrichten-, Werkstoff- und Medizintechnik entstand eine Fülle von neuen Technologien und Systemen, die den digitalen Wandel in vielen weiteren Branchen befeuerten.

Der erste Teil dieser Kolumne erschien am 14.06.2019.

Das Internet war aus dem ARPANET des amerikanischen Verteidigungsministeriums entstanden, das im Jahr 1990 öffentlich zugänglich gemacht wurde. Mit dem World Wide Web, das Tim Berners-Lee am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf entwickelt hatte und 1991 öffentlich verfügbar machte, wurde das Internet unglaublich populär und erreichte ein explosionsartiges Wachstum. Zwischen 1992 und 1998 stieg die Zahl der ans Internet angeschlossenen Rechner von 1 auf 40 Millionen.

Das Vordringen des Computers in immer neue Anwendungsbereiche zeigte, dass viele Fragen der Programmierung gar keine formalen Fragen sind, sondern anwendungsspezifisches Wissen erfordern. So mussten sich die Softwareentwickler immer intensiver mit speziellem und kontextspezifischem Wissen auseinandersetzen. Damit eröffnete sich für fast alle Fraunhofer-Institute ein wachsendes Einsatzfeld. Wichtige Impulse brachte beispielsweise das EUREKA-Projekt PROMETHEUS, das sich von 1985 bis 1995 mit der Verbesserung des Straßenverkehrs befasste. Mit der Entwicklung von sichtgestützten Fahrerassistenzsystemen wurden dabei auch die Grundlagen für das autonome Fahren entwickelt. AM IITB gab es damals eine kleine Teststrecke, die ein mit Elektronik vollgestopfter PKW selbständig durchfahren musste. Andere Schwerpunkte waren die Prozessleittechnik und die Robotersteuerung. Die Bildverarbeitungssysteme sorgten außerdem für Durchbrüche in der industriellen Qualitätssicherung und in der Gesichts- oder Nummernschilderkennung.

Von der Simulation zum Cyberspace

1995 wurde in Kaiserlautern das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITMW gegründet. In fast allen Forschungsbereichen entwickelten sich Simulationstechniken, um Werkstoffe, Bauteile oder ganze Fabriken im Rechner zu konstruieren, noch bevor ein Atom bewegt worden war. Mit der technologischen Entwicklung der Virtuellen Realität, die von mehreren Fraunhofer-Instituten vorangetrieben wurde, lassen sich inzwischen Montagetechniken ausprobieren oder Gebäude besichtigen, bevor sie gebaut werden. Das reicht hin bis zu Telewartung oder Telemedizin. Erst durch das Zusammenspiel mit leistungsfähiger Computersteuerung konnten sich neue Technologiegebiete wie die Lasertechnik oder Rapid Prototyping und die Generativen Fertigungsverfahren entwickeln.

Der Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie erforscht und entwickelt Kontext- und Use-Szenarien, um Anforderungen an interaktive Produkte auf der Basis von Benutzereigenschaften, Prozessen und technischen Rahmenbedingungen zu definieren. Bild: Charlotte Bolinski | Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie

Ebenfalls nicht unterschätzt werden darf auch der Bereich der Logistik und Mobilität, der ganz wesentlich durch IUK geprägt wird – so auch das wachsende Feld Energiemanagement.

Bis zum Ende des Jahrhunderts waren in allen Fraunhofer-Instituten die Informations- und Kommunikationstechniken zum wichtigen Werkzeug geworden. Selbst die Life Sciences profitierten immer mehr von den fortgeschrittenen Digitaltechniken.

»Während die Entwicklung der GMD einer Odyssee gleicht, hat die FhG seit dem Ende der siebziger Jahre mit dem Modell der industriellen Auftrags- oder Vertragsforschung einen sehr stabilen Erfolgskurs in der Informationstechnik einschlagen können«, beurteilt Hans-Willy Hohn die verschiedenen Wege und nennt auch den Grund für den Schlingerkurs der GMD: »Die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft waren stets brüchig und von wechselnden Akteurskonstellationen mit unterschiedlichen und sich rasch wandelnden Zielvorstellungen gekennzeichnet.« Zudem führt er die verschiedenen Vorgehensweisen an: »Während der Wechsel auf neue Arbeitsgebiete in der GMD stets durch eine Reform ›von oben‹ eingeleitet werden muss und mit einem ›hohen Geräuschpegel‹ verbunden ist, gehen die Anpassungsprozesse an Fraunhofer-Instituten sehr viel reibungsloser vor sich«.

Die GMD kommt zu Fraunhofer

Bei der Systemevaluation im Jahre 1998 empfahl die zuständige Kommission der Fraunhofer-Gesellschaft sich stärker in den Informations- und Kommunikationstechnologien zu engagieren. Überraschend für die Öffentlichkeit, die Forschungsgemeinde, aber auch für die Mitarbeiter der Fraunhofer-Gesellschaft und des GMD Forschungszentrums Informationstechnik verkündete Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn im September 1999 die Fusion der beiden Einrichtungen. Es war »der größte, aber auch umstrittenste Coup in der Geschichte der bundesdeutschen Wissenschaftspolitik«, beurteilt Helmuth Trischler diese von wenigen Eingeweihten vorbereitete Eingliederung einer Großforschungseinrichtung in die Fraunhofer-Gesellschaft. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF suchte schon seit vielen Jahren für die GMD nach einer Neuorientierung. Diverse Umstrukturierungen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Also glaubte das BMBF durch eine Vereinigung mit der Fraunhofer-Gesellschaft Synergien freisetzen zu können.

Die im kleinsten Kreis getroffenen Vereinbarungen lösten einen Sturm der Entrüstung aus und stießen bei den Betroffenen auf größten Widerstand. Die Fraunhofer-Gesellschaft kämpfte um den Erhalt des Fraunhofer-Modells als fundamentales Prinzip der fairen Ressourcenverteilung, die GMD um die weitere Finanzierung ihrer Grundlagenforschung. Erst nach zwei Jahren und schlagkräftigen Auseinandersetzungen konnte die »Integration« juristisch vollzogen werden, wie Hans-Jürgen Warnecke, ehemaliger Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, nun das Ergebnis nannte, das einst als Fusion angekündigt war. Die Fraunhofer-Gesellschaft änderte weder die Organisationsstrukturen, noch das Fraunhofer-Modell. Die neu formierte Fraunhofer-Gruppe Informations- und Kommunikationstechnik, die acht GMD-institute und sechs Fraunhofer-Institute umfasste, war zwar der größte europäische Forschungsverbund auf diesem Gebiet, unterschied sich aber nur wenig von den anderen Institutsverbünden. Das Forschungsprogramm »Leben und Arbeiten in einer vernetzen Welt« unterstützte fünf Jahre lang vor allem die ehemaligen GMD Institute, um den schrittweisen Aufbau einer Vertragsforschung zu ermöglichen. Dennis Tsichritzis wurde als weiteres Mitglied in den Vorstand der Fraunhofer-Gesellschaft aufgenommen. Letztlich hatte sich Fraunhofer durchgerungen, das mühsam erkämpfte und so erfolgreiche Profil mit einer klaren Ausrichtung auf den Markt nicht verwässern zu lassen.

Im Jahre 2003 kam dann das Heinrich-Hertz-Institut zur Fraunhofer-Gesellschaft. 2004 wurde in Ilmenau das Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT gegründet. 2009 entstand in Bremen das Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medizin MEVIS (seit 2018: Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS).

Das Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, hat maßgeblich zur Entwicklung der Videocodierungsstandards H.264 / Advanced Video Coding (AVC) und H.265 / MPEG High Efficiency Video Coding (HEVC) beigetragen. Bild: Fraunhofer HHI

Technologieführerschaft in Audio- und Videokompression

Nach dem überragenden Erfolg von mp3, konnte das Fraunhofer IIS in Erlangen eine weltweite Führungsposition bei der Entwicklung immer besserer Audiocodecs, nicht nur für Musik, sondern auch für Sprache übernehmen. Das Institut schaffte es, sich gemeinsam mit Partnern bei allen weltweiten Standardisierungsverfahren auf dem Audiogebiet durchzusetzen. Ähnlich herausragend ist die Position des Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut HHI auf dem Gebiet die Videokompression. Auf fast allen Smartphones, Tablets oder Laptops wird Ton und Film mit diesen Kompressionsverfahren übertragen. Auch bei der Entwicklung der Virtuellen und Augmented Reality, den Servicerobotern oder dem 3D-Druck konnten die Fraunhofer-Institute wichtige Impulse liefern.

CUPstomizer ist eine Software für individuelle Maßlösungen in der Kleinstserienfertigung und simuliert, wie Produkte im Design individuell angepasst können ohne ihre physikalische Stabilität zu verlieren. CUPstomizer veranschaulicht den fließenden Übergang zwischen Design und Simulation anhand von Tassenhaltern für grifflose Tassen, die Benutzer nach ihren Wünschen gestalten können. Bild: H. Köhler | Fraunhofer-Verbund IKU-Technologie

Die Bildverarbeitung erobert immer weitere Bereiche. Besonders bekannt als »Stasi-Puzzle« wurde ein System des Fraunhofer IPK in Berlin, das zerrissene Akten zusammensetzen konnte. In Verbindung mit dem Maschinellen Lernen wird Bildverarbeitung heute zu einem wichtigen Werkzeug für das autonome Fahren oder die Medizintechnik.

Das Fraunhofer IPK hatte die Idee, ein System zu entwickeln, das zerrissene Stasi-Akten automatisiert virtuell rekonstruiert. Diese Initiative führte zum „Stasi-Schnipsel-Projekt“, bei dem die zeitaufwändige und teils unmögliche manuelle Zusammensetzung durch das automatisierte System des Fraunhofer IPK ersetzt wurde. Bild: Gerold Baumhauer | Fraunhofer IPK

Mit der Integration der GMD-Institute richtete sich der Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie konsequent auf die großen Bedarfsfelder von Wirtschaft und Gesellschaft aus. In Deutschland ging es vor allem darum, die erfolgreichen Industriezweige durch Digitalisierung wettbewerbsfähig zu halten.

Ausbau der Techologieführerschaft

Seither versucht die Fraunhofer-Gesellschaft durch Bündelung und Ausbau der Kompetenzen eine führende Rolle in aktuellen Zukunftsfeldern aufzubauen: Industrie 4.0, Cybersicherheit, Mobilfunktechnologie 5G oder Kognitive Maschinen und Künstliche Intelligenz.

Mit Industrie 4.0 scheint das nun endlich möglich, was früher mit Prozessleittechnik oder Computer Integrated Manufacturing CIM versucht wurde: Die Produktion möglichst weitgehend zu automatisieren. Industrie 4.0 geht aber weit darüber hinaus und hat sich die intelligente Vernetzung von Produktentwicklung, Produktion, Logistik und Kunden vorgenommen. Cyber-physische Systeme nehmen dabei Sensordaten auf, um die Material-, Güter- und Informationsflüsse zu regeln. Aus starren Fabrikstraßen werden flexible, modulare und effiziente Systeme. Roboter und Assistenzsysteme unterstützen den Menschen. Die Fraunhofer-Institute sind mit ihren langjährigen Kompetenzen in Fabrikautomatisierung, Logistik, Sensorik und IUK prädestiniert, Anwendungsszenarien für Industrie 4.0 zu entwickeln.

Ein anderes großes Thema für die deutschen Unternehmen ist die IT-Sicherheit. Ein sicherer Datenraum ist die Voraussetzung für smarte Services, innovative Leistungsangebote und automatisierte Geschäftsprozesse. Nur wenn die Datensouveränität von Unternehmen und Bürgern gewahrt ist, kann sich der Austausch digitaler Daten weiterentwickeln. Schon im Jahr 2015 initiierte Fraunhofer die »Industrial Data Space«-Initiative. Ihr Ziel ist es, eine digitale Infrastruktur zu schaffen, die auf europäischen Rechts-, Sicherheits- und Datenschutzstandards basiert.

Durch die Initiative International Data Spaces (vormals Industrial Data Space) können Einzelhandel, Lieferanten und Logistikdienstleister ihre Lieferketten gemeinschaftlich steuern und überwachen. Bild: H. Köhler | Fraunhofer-Verbund IKU-Technologie

Vor kurzem hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, die Förderung der Initiative »QuNET« bekanntgegeben. Mit einem Fördervolumen von zunächst 25 Millionen Euro soll in den kommenden Jahren daran geforscht werden, wie man die Gesetze der Quantenphysik für sichere Kommunikationsnetze nutzbar machen kann.

Voraussetzung für Fortschritte bei Industrie 4.0. oder dem autonomen Fahren ist die extrem leistungsfähige Mobilfunktechnologie 5G, die Übertragungsgeschwindigkeiten von mehr als zehn Gigabit pro Sekunde (Gbit/s) erreicht. Fraunhofer-Institute sind maßgeblich an der Entwicklung und Einführung der 5G-Technologien beteiligt.

Das Thema Künstliche Intelligenz ist eigentlich uralt. Schon mit den ersten Computern begann die Spekulation, damit ein »Elektronengehirn« zu schaffen, das dem menschlichen Denkvermögen ähnlich werde. Allerdings entstand genauso früh die heftige Kritik an übersteigerten Erwartungen. Nach vielen Rückschlägen und Irrwegen ist die Künstliche Intelligenz heute wieder zur weltweit gefragten Technologie avanciert. Nationale KI-Strategien wurden von den USA, China, Frankreich, Großbritannien, Finnland, der Europäischen Union sowie weiteren Ländern vorgelegt. Die deutsche »Strategie Künstliche Intelligenz« wurde im November 2018 von der Bundesregierung verabschiedet. Die Fraunhofer-Institute bearbeiten viele der Kompetenz- und Forschungsfelder der künstlichen Intelligenz und deren Anwendungen in den Bereichen Robotik, Bild- und Sprachverarbeitung sowie Prozessoptimierung.

Künstliche Intelligenz formt mittlerweile einen weltweiten Trend, der mehr und mehr Auswirkungen auf ökonomische und gesellschaftliche Prozesse ausübt. Bild: Charlotte Bolinski | Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie

Fraunhofer unterstützt die nationalen und europäischen Initiativen zur KI, setzt aber auch bewusst eigene große Schwerpunkte. Im Cluster Cognitve Internet Technologies (CCIT) beispielsweise wird Sensorik, Datenhandling und intelligente Analyse miteinander verbunden, um neue Anwendungen zu eröffnen. Das Maschinelle Lernen wird intensiv ausgebaut. Unter anderem soll in München ein Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme entstehen.

Zudem hat sich die Fraunhofer-Gesellschaft wieder einmal vorgenommen, ihre eigenen Geschäftsprozesse auf eine neue Qualitätsstufe zu heben. Mit dem Projekt »Fraunhofer Digital« soll die effizienteste digitale Administration unter den Forschungsorganisationen entstehen. Diese Aufgabe ist schwierig, aber unverzichtbar. Gerade in einer Organisation, deren Kernkompetenz das Erzeugen von datenbasiertem Wissen ist, können durch Business-Intelligence-Systeme enorme Zuwächse an Effizienz, Kreativität und Know-how erzielt werden.

Fraunhofer ist mit diesen Initiativen gut aufgestellt, um die Technologieführerschaft auf mehreren Gebieten ausbauen zu können. Wir wissen aber aus den bizarren Wendungen der IUK-Geschichte, dass man jederzeit mit Überraschungen rechnen muss und neue Lösungen meist nur als weltweiter Standard durchsetzbar sind. Daher muss angewandte Forschung immer auf verschiedene Technologiepfade setzen, vor allem aber bereit zum schnellen Technologiewechsel sein.

(fmi)

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Franz Miller
  • Franz Miller war langjähriger Leiter der Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Fraunhofer-Gesellschaft, veröffentlichte das Buch »Die mp3-Story« und arbeitet zur Zeit als freier Journalist.
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