Eines der Kernversprechen von Industrie 4.0 ist es, sogar individuelle Produkte effizient und kostensparend produzieren zu können. Allerdings sind vielerorts noch Maschinen im Einsatz, deren proprietäre Steuerungssysteme nicht dieselbe Sprache sprechen wie die Technikkollegen in der Fabrikhalle. Oder die Programme der Fabrikationsanlagen stammen noch aus einer Zeit, in der ein Begriff wie Industrie 4.0 noch nicht einmal Thema an den Hochschulen war. Nun entwickeln Forscher und Systementwickler einen »Maschinenversteher«, der heterogene Systeme für Industrie 4.0 befähigen soll.

Eine Aluminium-Kaltwalzanlage für eine neue oder geänderte Produktlinie vorzubereiten, ist eine komplexe Aufgabe. Von den verschiedenen benötigten Walzenpressen bis zu Drehtischen und Transportbändern muss der gesamte Weg eines Aluminiumbunds von der Bereitstellung entlang der Bearbeitungsstationen bis zum abschließenden Einsortieren ins Lager präzise konfiguriert und getaktet werden. Das übliche Vorgehen bei einer Änderung ist es, die Anlage komplett herunterzufahren und die neuen Prozesse dann Schritt für Schritt anzulegen. Die Nutzung von Speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) ist dabei keine Seltenheit, denn viele der robusten Maschinen und Anlagenkomponenten sind bereits seit vielen Jahren im Einsatz. »In der Industrie 4.0 sollen solch zeit- und kostenintensiven Umrüstungen endgültig der Vergangenheit angehören. Weil dafür aber nicht der komplette Anlagenpark erneuert werden kann, benötigt die Industrie 4.0 ein offenes und sehr universelles Betriebssystem, das es schafft, auch ältere Anlagen in eine einfach zu nutzende, digitale Gesamtsteuerung von Produktionsprozessen zu integrieren«, erklärt Dr. Thomas Kuhn vom Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE. Möglich machen soll dies künftig eine modular aufgebaute virtuelle Middleware, die Steuerungskomponenten älterer Anlagen ebenso integriert wie die neuesten Industrie 4.0 Komponenten. Ein solches Betriebssystem entwickeln die Fraunhofer-Forscher nun gemeinsam mit vierzehn weiteren Partnern aus Forschung und Industrie im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts »BaSys 4.0«. Die Aluminium-Kaltwalzanlage ist einer der Demonstratoren, an dem das Projektteam die Leistungsfähigkeit ihres Industrie 4.0 Betriebssystems überprüft und belegt. Die Middleware soll dabei nicht nur dazu dienen, das Aufsetzen einer neuen Produktionslinie zu beschleunigen. Als »Maschinenflüsterin« kann sie auch Lösungen für das Troubleshooting umsetzen. Fällt beispielsweise ein Drehtisch der Anlage aus, startet der mit der Middleware verbundene Controller eine neue Anlagenstrategie, die den Weg der Aluminiumteile durch die Anlage ändert. Die übrigen Drehtische übernehmen so ohne aufwändige Neuprogrammierung die Aufgabe der ausgefallenen Komponenten. Bei älteren Maschinen mit speicherprogrammierbarer Steuerung (SPS) ist es dabei nicht erforderlich, dass diese komplett in die Middleware integrierbar sind. »Es reicht, wenn wir Schnittstellen einrichten, über die sich verschiedene hinterlegte SPS-Steuerprogramme einspielen oder aufrufen lassen«, so Kuhn.

Programmmodule, Datenmodelle und Schnittstellen der BaSys 4.0 Middleware ermöglichen es, unterschiedlichste Maschinen und Steuerungssysteme dynamisch miteinander zu verbinden. Bild: Fraunhofer IESE

Anlagenkonfiguration im Fluss

Weitere Beispielanwendungen wie eine Fertigungsstraße für Akku-Pakete dienen den Projektpartnern dazu, ihre virtuelle Middleware auch dazu zu befähigen, komplette Produktionsabläufe im laufenden Anlagenbetrieb zu konfigurieren. Trotz heterogener Zusammensetzung aus Komponenten verschiedener Hersteller und verschiedener Technikgenerationen soll so möglich werden, auf einer Anlage beispielsweise zwei unterschiedliche Aufträge zur gleichen Zeit parallel zu fertigen. Je nachdem, welches Werkstück gerade an einem Prozessschritt ankommt, steuert ein Controller, welche Bearbeitungsstation das Werkstück als nächstes durchläuft und wie die Anlage dafür einzustellen ist. »Unsere Middleware ermöglicht einen kontinuierliche Eingriff in die Anlagensteuerung und so die parallele Bearbeitung von Aufträgen, beispielsweise auch wenn die Akku-Pakete von Typ A bei der Bestückung der Gehäuse mehr Zeit benötigen, dafür aber Werkstücke vom Typ B zusätzlich zu beschriften sind«, erläutert Kuhn. Die Basis dafür bietet das neuentwickelte Datenmodell von BaSys 4.0. Es kann Daten über generische Schnittstellen, aber auch in anwendungsnahen Datenmodellen aufbereiten - und dies sowohl beim Auslesen der Informationen an den Maschinenschnittstellen, als auch beim Einspielen von Konfigurationseinstellungen.

Mit digitalen Zwillingen zur Losgröße 1

Eines der Kernziele des neuen Industrie 4.0 Betriebssystems ist die dynamisch steuerbare Fertigung bis hin zur Losgröße 1. Die Middleware nutzt für jede Komponente einen digitalen Zwilling. Dieser umfasst alle Funktionen und Dienste, die sein reales Vorbild bereitstellen und ausführen kann. Außerdem sammelt jede der virtuellen Repräsentanzen kontinuierlich die aktuellen Zustandsdaten der Anlagenkomponenten. Alle digitalen Zwillinge zusammen bieten somit ein ganzheitliches Abbild der Produktionsumgebung. Dadurch ermöglicht die Middleware die Integration von Simulationslösungen, die die Auswirkungen von Prozessänderungen vorab berechnen und prüfen können. Auch die Steuerung komplexer Produktionsprozesse lässt sich so vor dem realen Lauf als virtueller Ablauftest durchspielen.

Bei der individuellen Produktfertigung haben die Forscher aber auch die Einbindung von händisch auszuführenden Arbeitsschritten im Blick. Die Arbeiter in der Produktion kann die Middleware zum Beispiel dadurch unterstützen, dass sie ihnen für das jeweilige Werkstück spezifische Arbeitsanweisungen am Arbeitsplatz anzeigt. »Es sind aber auch zusätzliche Arbeitserleichterungen umsetzbar: Zum Beispiel, dass sich das Drehmoment eines Schraubers automatisch für das nächste zu bearbeitende Produkt richtig einstellt«, betont Kuhn. Projektziel der Forscher ist die Entwicklung der BaSys 4.0 Middleware in Form einer Referenzplattform, deren Programmmodule, Datenmodelle und Schnittstellen dann den Herstellern von Maschinen und Steuerungssystemen offen zur Verfügung steht, um das Betriebssystem der Industrie 4.0 in ihre Produkte zu integrieren. (stw)

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