Autonom fahrende Fahrzeuge werden schon bald unser Straßenbild ändern. Bei Nutzfahrzeugen stellen sich hier besondere Herausforderungen, denn ein autonom fahrender 40-Tonner-Sattelschlepper bringt Risiken mit sich, die gut beherrschbar sein müssen. Dafür müssen die Computer wissen, wie Zustand und Ladung des Aufliegers die Fahrsituation beeinflussen. Im Projekt »IdenT« wird daran geforscht. Teilprojektleiter Dr. Michael Burger vom Fraunhofer ITWM erklärt, warum sekundengenaues Wissen über den Zustand eines Trailers grundlegend ist für Fahrtauglichkeit und Sicherheit autonom fahrender Lkw.

Hallo Herr Burger, dass ein autonom fahrender Lkw eine Fülle von Sensoren und Daten braucht, um sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen, ist offensichtlich. Im Projekt IdenT aber wollen Sie nun auch noch den Auflieger, also den Trailer mit Sensoren ausstatten. Ist das wirklich nötig?

Die Zugmaschine ist und bleibt die fahrende Zentrale. Wenn Sie sich aber die gesamte Fahrdynamik eines Lkw mit Auflieger ansehen, dann gehört dazu auch der Trailer. Ist er voll beladen? Ist die Ladung leicht oder schwer? Wie gut ist der Zustand der Reifen? Wie dynamisch verhält er sich genau jetzt auf der aktuell befahrenden Straße? Die Kräfte, die auf einen Sattelzug wirken, werden maßgeblich vom Trailer bestimmt – auch wenn die Zugmaschine die Führung hat.

Und diese »Führung« des autonomen fahrenden Sattelzugs muss über den Gesamtzustand und über Besonderheiten im »hinteren Teil« informiert sein, um sicher zu agieren?

Richtig. Essenziell wird das nicht nur bei einer Notbremsung. Auch das normale Fahrverhalten wird durch den Trailer maßgeblich mitbestimmt. Dazu kommt eine möglicherweise sicherheitsrelevante Abnutzung einzelner Trailerkomponenten.

Ihre Erklärung ist so folgerichtig, dass ich mich frage, warum ein derartiges Projekt wie IdenT erst jetzt initiiert wurde? An der Entwicklung autonom fahrender Fahrzeuge wird schon lange gearbeitet!

Das muss man aus der Gesamtschau sehen. Wir haben in modernen Pkw und Lkw bereits viele und von ihren Fähigkeiten her beeindruckende Fahrerassistenzsysteme, zum Teil sogar als Serienausstattung. Frühere Arbeiten haben uns also bereits wichtige Fortschritte und Erkenntnisse gebracht. Gleichwohl sind in diesem Feld noch viele Fragen offen und eine Fülle von Herausforderungen ist heute noch nicht zufriedenstellend gelöst. Dazu gehört beispielsweise die Frage nach einem effizienten und vor allem zuverlässigen Absicherungskonzept für autonome Fahrfunktionen, besonders bei schweren Lkw. In Industrie und Wissenschaft wird an sehr vielen Stellen an diesen und anderen Fragestellungen gearbeitet und geforscht, im Rahmen des Projekts IdenT wollen wir hierzu einen Beitrag leisten.

Aber die Sensorik dürfte vergleichbar sein?

Nein, nicht zwangsläufig an allen Stellen. Es gibt einige, grundlegende Unterschiede. Während ein moderner Pkw heute beispielsweise schon registriert, ob genügend Luft im Reifen ist, geht es bei einem Lkw auch darum, den Reifenabrieb vorherzusagen und auch ohne Sichtprüfung festzuhalten, ob ein Reifen oder die Achse an der Verschleißgrenze ist. Dafür ist zum Teil Sensorik nötig, die es so im Pkw nicht gibt, beispielsweise Balgdrücke im Luftfedersystem des Trailers.

Das heißt, Sie wollen so viel Daten monitoren und erfassen wie möglich.

Im Gegenteil. Ein Teil unserer Forschungen besteht unter anderem darin, so wenig Erfassung wie möglich einbauen zu müssen. Das ist notwendig, weil unsere Erkenntnisse einem System eines Tages dazu verhelfen sollen, in Serie zu gehen. Wir müssen also auch Praktikabilität, Robustheit und Kosten im Blick behalten. Was allerdings in jedem Fall Teil des Systems sein wird, ist die Beobachtung der Straße und des Belags. Dazu benötigen wir die Daten von Sensoren, die beispielsweise Beschleunigungen an der Achse messen, damit wir auf den Rauigkeitszustand der Straße schließen können.

Die erfassten Daten werden dann aber nicht nur von der zentralen Steuereinheit in der Zugmaschine verarbeitet, sondern sozusagen auch »extern« genutzt.

Richtig. Das geschieht durch einen Digitalen Zwilling oder genauer: Durch zwei verschiedene Typen dieser Zwillinge: Einen Offline- und einen Online-Zwilling. Der Online-Zwilling verwendet Rechnerhardware, die am Trailer verbaut ist. Damit haben wir sozusagen »Echtzeit on board«, so dass erste Berechnungen und Simulationen durchgeführt werden können. Dazu gehört beispielsweise die am Fraunhofer ITWM entwickelte Rauigkeitsdetektion der Straße, weil diese Daten sofort benötigt werden, um die aktuelle Lage einschätzen zu können. Der Offline-Zwilling hingegen wird gespeist von Daten, die vom Lkw zunächst an eine Cloud übermittelt werden. Ähnlich wie bei Apps auf Smartphones, bei denen vielfältige und anspruchsvolle Berechnungen zunehmend von leistungsstarken, externen Rechnern durchgeführt werden und die Verbindung über die Cloud aufrechterhalten wird, schaffen wir so nun auch für die Daten des Aufliegers eine Möglichkeit, mithilfe hochgenauer Modelle komplexe Berechnungen und Prognosen durchzuführen.

Was bedeutet das konkret?

Denken Sie an eine Situation, bei der der Trailer eine sehr gute Straße befährt. Eine flach verlaufende Autobahn mit ziemlich wenig Unebenheiten beispielsweise. Die Strecke führt fast genau geradeaus, eine Beschleunigung oder ein Abbremsen sind nicht nötig. Eine derartig »einfache« Fahrt stellt kaum Ansprüche an den Rechner. Die Analyse kann hier also ausschließlich vom internen Online-Zwilling übernommen werden. Etwas Anderes ist es, wenn der Sattelschlepper innerorts oder auf einer Huckelpiste unterwegs ist. Nun müssen sehr viel wichtige Daten protokolliert und ausgewertet werden. Etwa bezüglich Rauigkeit und Dynamik des Fahrverhaltens, die sich unmittelbar auf die Beanspruchung etwa der Stoßdämpfer, oder des Achsrohrs insgesamt auswirken. In diesem Fall werden die erfassten Daten zusätzlich mit geringer Latenz an den Offline-Zwilling weitergegeben, um in so einer Situation sehr präzise Voraussagen zur Abnutzung und dem situationsangepassten Fahren zu machen. So lässt sich das Fahrverhalten vor allem in Bezug auf die Sicherheit optimal anpassen. Zusätzlich können Daten etwa zu Komponenten an der Verschleißgrenze an die Spedition weitergegeben werden, damit das bei der Planung der Inspektion berücksichtigt wird oder im Notfall sofort eingegriffen werden kann.

Das Projekt IdenT fokussiert stark auf autonom fahrende Sattelschlepper. Aber all das sind Informationen, die für jeden traditionellen Lkw ebenfalls sinnvoll wären.

Das eine schließt das andere nicht aus. Für das autonome Fahren sind Informationen wie diese zwingend, um Fahrfunktionen oder Assistenzsysteme zuverlässiger, besser und sicherer zu machen. Für Lkw ohne Anhänger oder Auflieger oder auch Pkw können die Methoden zum Teil adaptiert und genutzt werden, in IdenT liegt der Fokus aber klar auf dem Trailer.

Aufgabe des Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM ist es, nicht nur die Digitalen Zwillinge mit zu entwickeln, sondern auch für den Dateninput zu sorgen. Dazu gehört es vermutlich vor allem, die Heterogenität der Sensordaten zu gewährleisten.

Nicht nur das. Ein Projekt wie dieses wäre ohne andere Partner kaum vorstellbar. Deshalb arbeiten wir auch bei der Entwicklung der Digitalen Zwillinge unter anderem mit dem Konsortialführer BPW Bergische Achsen Kommanditgesellschaft, dem Institut für Mechatronische Systeme der Universität Hannover oder dem Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF eng zusammen. Wir vom Fraunhofer ITWM konzentrieren uns dabei vor allem auf die Identifikation und die Analyse der für alle weiteren Berechnungen essenziellen Straßenzustandsdaten, also auf die sogenannten Straßenanregungen.

Ziel des Projekts ist es zunächst aber, »nur«ֿ grundsätzliche Forschungsergebnisse bereitzustellen?

Nicht »nur«ֿ. Der Projektname IdenT steht allgemein für »Identifikation dynamik- und sicherheitsrelevanter Trailerzustände für automatisiert fahrende Lastkraftwagen«.
Uns geht es in diesem Kontext darum, ein Gesamtkonzept für autonom fahrende Lkw mit Trailer zu entwickeln. Ziel des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Projekts ist es, Forschungsergebnisse in die praxistaugliche Anwendung zu bringen. So wollen wir mit unseren Entwicklungen und Arbeiten die Grundlage dafür legen, dass in Zukunft autonom fahrende Nutzfahrzeuge sicher und effizient unterwegs sind. Dass wir hier schon bedeutende Fortschritte erzielt haben, zeigt beispielsweise ein Testfahrzeug, mit dem wir den aktuellen Stand des Konzepts zwar heute noch versuchsweise, aber erfolgreich auf die Straße gebracht haben. Wir sind aber noch nicht fertig, sondern arbeiten zusammen mit den Projektpartnern weiter daran, Verbesserungen durchzuführen, zusätzliche Bausteine hinzuzufügen, um letztlich ein Gesamtsystem zu haben, das auch in Serie gehen könnte.

(hen)

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Dr. Michael Burger
  • Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM
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