Es sind viele Schritte nötig, um die klassische Industrieproduktion auf Industrie 4.0 »upzudaten« − also die Automatisierungstechnik mit Informations- und Kommunikationstechnik zu verknüpfen. Im Projekt IoT Core haben Forscher am Fraunhofer FOKUS Herangehensweisen und Tools zur Umsetzung von intelligenten, vernetzten, cyberphysischen Systemen für die Produktion von morgen entwickelt. In diesem Jahr werden erste konkrete Industrieprojekte in Angriff genommen. Projektleiter Dr. Florian Schreiner erklärt den vielschichtigen Projektansatz.

Hallo Herr Dr. Schreiner, am Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS sind Sie mitverantwortlich für die Entwicklung des IoT Cores. Der Name deutet auf Grundlegendes hin.

Es ist grundlegend. Unser offizieller, englischer Projektname »Industrial Edge Intelligence Platform« beschreibt das auch etwas genauer. Wir arbeiten also an einer Gesamtlösung, um Upgrades von Industrieunternehmen hin zu einer einheitlichen, standardisierten und echtzeitfähigen Datenerfassung beziehungsweise zur lokalen echtzeitnahen Datenanalyse und Anlagensteuerung überschaubarer, kalkulierbar und möglichst einfach zu machen.

Das gilt über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg?

Das gilt zunächst für den Bereich Produktion. Hier identifizieren wir die je nach Unternehmens- und Produktionssituation sinnvollen Internet of Things (IoT)-Geräte und passen sie in die Produktion ein. Dann integrieren wir die Geräte in das vor Ort vorhandene Netz oder spannen neue, hochperformante, standardisierte und damit zukunftsfähige Netze. Und schließlich bereiten wir die über diese verteilten Geräte gewonnenen Daten so auf, dass Produktionsprozesse, insbesondere Standzeiten, analysiert und optimiert werden können: Von der rechtzeitigen Wartung von Maschinen, bevor diese ausfallen, bis zur effektiveren Steuerung einzelner Prozessschritte.

Bestehende Produktionsstätten sind aber vermutlich nicht die einzige »Zielgruppe« der Industrial Edge Intelligence Platform.

Wir stellen unser Know-how sowohl für Greenfield- wie für Brownfield-Anlagen zur Verfügung. Greenfield beschreibt Anlagen, die noch geplant und gebaut werden müssen. Deutlich häufiger haben wir es allerdings mit Brownfield-Anlagen zu tun. In diesem Fall sollen Bestandsanlagen durch Möglichkeiten von Industrie 4.0 effektiviert werden. Bei unseren Planungen müssen wir hier berücksichtigen, ob und welche Daten eine Anlage bereits generiert und welche weiteren Informationen wir beispielsweise durch den Einsatz von Sensoren an verschiedenen Anlagen generieren müssen.

Wie gehen Sie vor?

Eines der wichtigsten Werkzeuge ist das am Fraunhofer FOKUS entwickelte Tool »OpenIoTFog«. Über dieses Framework lassen sich unter anderem industrielle Funktechnologien, Feldbus- und Ethernet-basierte Netze (insbesondere TSN), Mechanismen zum Auslesen und zur Ansteuerung von industriellen Steuerungen (SPSen) sowie Maschine-zu-Maschine-Kommunikationsstandards (OPC UA), echtzeitfähiges Fog- und Edge-Computing, semantische Informationsmodellierung und echtzeitfähige Datenanalyse nutzen, um industrielle Anlagen fit für das Industrie 4.0-Zeitalter zu machen. Auf diese Weise können wir intelligente Fog-Knoten und hochperformante Edge-Clouds einfach in bestehende industrielle Netzwerke integrieren. Hochperformante Edge-Clouds sind kleinere lokale oder größere zentrale Orte der Datenverarbeitungs- und Steuerungsintelligenz. Außerdem werden wir in die Lage versetzt, Anlagensteuerungen über standardbasierte Schnittstellen auszulesen und aktiv zu steuern. Des Weiteren können wir eine Anbindung an eine übergeordnete Produktionssteuerung wie ein Manufacturing Execution System (MES) oder an IIoT Plattformen vornehmen.

Helfen Sie mir, das etwas genauer zu verstehen…

IoT Core nutzt den OpenIoTFog zur Datenaggregation. Denn mit Hilfe von OpenIoTFog können wir eine Netzinfrastruktur schaffen oder in bestehende Infrastrukturen integrieren, um schnell aussagefähige Daten zu sammeln. Dafür müssen wir aber Anlagen und Maschinen, die bereits über entsprechende Möglichkeiten verfügen, auslesen. Oder wir müssen die Möglichkeiten des Auslesens schaffen, in dem wir zum Beispiel Sensoren integrieren. Die Sammlung und Analyse der gewonnenen Daten übernimmt dann die Software. So wird beispielsweise eine Zustandsüberwachung möglich. Dieses Monitoring ermöglicht es, beim Überschreiten kritischer Werte die Produktion vor dem Eintreten eines Schadens automatisch zu stoppen. Außerdem können Unternehmensmitarbeiter mit Hilfe handelsüblicher Tablets die Auswertungen der gemessenen Sensordaten jederzeit abrufen und Rückschlüsse ziehen.

Fog-/ Edge Intelligence for Retrofitting and Condition Monitoring Bild: Fraunhofer FOKUS

OpenIoTFog ist ebenso wie IoT Core eine Edge-basierte Plattform. Was bedeutet das?

Wir sind so in der Lage die Daten vor Ort zu aggregieren, zu analysieren und zu nutzen. Dass dies vor Ort geschehen kann, ist nicht selbstverständlich, denn das Nutzen der Daten setzt die Interpretation durch sogenannte Edge Intelligence voraus. Dieser Vorgang kann sehr komplex sein und benötigt eine entsprechende Rechenkapazität. In der Regel nutzen wir dafür speziell für das Edge Computing weiterentwickelte Methoden des maschinellen Lernens durch eine KI und bringen die gelernten Edge Analytics und KI Funktionen als Edge Intelligence im IoT Core zum Einsatz.

Warum ist die Verarbeitung vor Ort so wichtig?

Die Edge-basierte Datenanalyse hat eine äußerst niedrige Latenz. Demnach kann das Anwenden von Regeln, die das Verhalten von Maschinen in einer Produktionshalle steuern, mit geringer Verzögerung erfolgen. Zur Datenanalyse nutzen wir beispielsweise Complex Event-Processing Maschinen beziehungsweise entsprechende Tools, mit deren Hilfe man komplexere Zustände erfassen kann. So können mehrere Signale verarbeitet werden. Diese Mehrdatenanalyse hat aber zur Folge, dass die Daten harmonisiert, homogenisiert und auf ein Datenformat gebracht werden müssen, um eine Vergleichbarkeit herzustellen. Und das muss extrem schnell geschehen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Denken Sie an die Qualitätssicherung eines Produktes, bei der mehrere Kameras parallel ein Werkstück erfassen und sofort entschieden werden muss, ob »Fehler« noch im Toleranzbereich liegen oder das Teil ausgesondert werden soll.

Welche Sensorik nutzen Sie?

Neben klassischen Temperatur- oder Drucksensoren nutzen wir in erster Linie hochauflösende Kameras und sogenannte MEMS-Sensoren. MEMS-Sensoren sind energieeffizient und vor allem für bewegliche Szenarien ideal, bei denen einzelne Beschleunigungswerte ermittelt werden müssen. Unter Umständen können wir aber bei einzelnen Maschinen auch auf das Anbringen zusätzlicher Sensorik verzichten, weil uns die bereits erzeugten Datensätze ausreichen.

Wir haben vor einiger Zeit bei InnoVisions über den Industrie 4.0 Koffer berichtet. Inwiefern hängt dieser mit dem IoT Core zusammen?

Den Industrie Koffer 4.0 haben wir gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in unserem Leistungszentrum »Digitale Vernetzung« entwickelt. Hier sind Maßnahmen und Möglichkeiten für den Übergang zu Industrie 4.0 enthalten. Unter anderem auch die Industrial Edge Intelligence Platform, über die wir hier reden. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im Leistungszentrum »Digitale Vernetzung« werden wir auch weiterhin an Erweiterungen und Verbesserungen dieses Industrie 4.0 Koffers arbeiten.

Dann ist vieles von dem, was Sie gerade beschrieben haben, also eher Zukunftsmusik?

Nein, die Tools und die Anpassungsmöglichkeiten an die Vorteile von Industrie 4.0 gehören bei uns schon heute zum täglichen Handwerkszeug. Es kommt allerdings auch auf die Produktlinie an: Die Komplexität bei der Herstellung und Qualitätskontrolle eines Reifens ist z.B. geringer als bei einer Turbine mit Tausenden von Bauteilen.

Das heißt, Sie setzen die Möglichkeiten, die sich durch die Industrial Edge Intelligence Platform ergeben, bereits konkret bei Industrieprojekten ein?

Ja, dieses Jahr starten verschiedene Projekte zur Umstellung auf Industrie 4.0. Wir nutzen die Erfahrungen, die wir dabei machen dann auch, um unsere Tools kontinuierlich weiter zu verbessern.

(aku)

Keine Kommentare vorhanden

Das Kommentarfeld darf nicht leer sein
Bitte einen Namen angeben
Bitte valide E-Mail-Adresse angeben
Sicherheits-Check:
Zwei + = 6
Bitte Zahl eintragen!
image description
Interviewpartner
Alle anzeigen
Dr. Florian Schreiner
  • Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS
Weitere Artikel
Alle anzeigen
Die Evolution der Gießkanne
Sag mir, wer da spricht 
Training auf eigenem Terrain 
Stellenangebote
Alle anzeigen