Lieferverzögerungen können in der produzierenden Industrie schnell ganze Fertigungslinien aus dem Zeittakt bringen. Trackinglösungen alleine erfassen nur den Ist-Zustand. Entscheidend aber ist, wie sich die verschiedensten Einflussgrößen in den Folgestunden auswirken werden. Nur dann können Logistikdienstleister Abweichungen vom geplanten Zeittakt vorhersehen und einen Rückstau in den Umschlagshallen vermeiden. Möglich werden soll das nun mit Hilfe von Fraunhofer-Forscher*innen und einer KI.

Von den Rampen bis in die hintersten Ablageplätze stapeln sich die Paletten, Kisten und Pakete. Dazwischen – in den Gängen – ist seit Stunden schon reger Betrieb. Unentwegt sind Gabelstapler und Hubwagen unterwegs und bringen ihre Ladung zum nächsten Zwischenziel. Alle Waren, die die Trucks über Nacht angeliefert haben, passieren das Eingangs-Tracking, danach meist mehrere Sortier- und Sammelstationen, bis sie schließlich ausgecheckt und fertig zum Weitertransport im Laderaum des Ziel-Lkws platziert sind. Läuft im Umschlagszentrum alles wie geplant, steht einer pünktlichen Anlieferung beim Empfänger kaum etwas im Wege. Ein Ablauf nach Plan ist allerdings in der Praxis eher die Ausnahme als die Regel. »Kommt nur ein Lkw zu spät an die Laderampe, zum Beispiel, weil er im Verkehr stecken geblieben ist, kann das in der Umschlagshalle eine Kettenreaktion auslösen, die weitreichende Auswirkungen auch auf die Durchlaufzeiten vieler anderer Aufträge hat«, erklärt Benedikt Sonnleitner von der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS.

Häufig ist aber nicht nur ein Fahrzeug verspätet. Und es gibt zahlreiche weitere Einflussfaktoren, die den Arbeitsfluss im Umschlagszentrum beeinflussen. Erkranktes Personal beispielsweise, der Ausfall eines Gabelstaplers oder ein Auftragsrückstau an einzelnen Bearbeitungsstationen. Ob in einem Umschlagszentrum, das viele Tausend Versandeinheiten simultan durchlaufen, ein einzelner Auftrag trotz der Ablaufstörungen dennoch rechtzeitig seinen Ziel-Lkw erreicht, ist von dem oder der Yardmanager*in und seinem oder ihrem Team deshalb kaum verlässlich zu beantworten. »Das täglich wechselnde Zusammenwirken von Einflussgrößen und der aktuellen Auftragssituation ist schlicht zu komplex, um sie mit menschlichem Vorstellungs- und Kombinationsvermögen ad hoc erfassen und beurteilen zu können«, betont Sonnleitner. Er und seine Forschungskolleg*innen haben im Projekt PRODAB deshalb eine Software entwickelt. Sie meldet dem Yardmanagement frühzeitig, welche Aufträge Gefahr laufen, den avisierten Zeitplan nicht einzuhalten.

Expertenwissen wird berechenbar

Kernelement der Prognosesoftware ist eine Künstliche Intelligenz, die die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Einflussgrößen kennt und abschätzen kann, wie sie sich auf die aktuelle Auftragssituation auswirken werden. Das Forschungsteam nutzt dafür die Methodik eines Bayes’schen Netzes. Das zugrundeliegende Knotenmodell ermöglicht es, die verschiedenen Einflussgrößen und ihre Kausalbeziehungen nachvollziehbar abzubilden. Jeder Prozessschritt wie Bearbeitungsstationen und Sortieraufgaben erhält einen eigenen Netzknoten. Die Verbindungen dazwischen geben dann beispielsweise an, welche vorhergehenden Prozessschritte die Arbeit an einer Station beeinflussen.

»Dieses Kausalitätsmodell kann damit nicht nur aus den Prozessdaten berechenbare Zusammenhänge berücksichtigen, sondern auch nicht messbares Prozesswissen und die Erfahrung der Mitarbeiter*innen«, betont Sonnleitner. Das für die spezifischen Arbeitsabläufe des jeweiligen Umschlagszentrums angepasste Bayes’sche Netz nutzen die Forscher*innen dann als Grundlage eines Machine Learning-Algorithmus. Durch das Training der KI mit den Daten vergangener Prozessdurchläufe lernt die Maschine, die quantitativen Auswirkungen der einzelnen Einflussgrößen auf die Abhängigkeiten zwischen den Prozessschritten einzuschätzen. Dafür sind neben den beim Ein- und Auschecken der Sendungen erfassten Auftragsdaten weitere Event-Logs notwendig. »Diese zusätzlichen Scans der einzelnen Pakete oder Paletten sollten idealerweise an besonders aussagekräftigen Durchlaufpunkten wie typischen Staustellen in der Bearbeitungskette vorgenommen werden«, so Sonnleitner. Da bei den Trainingsdaten die Zeitverzögerungen im Durchlauf explizit bekannt sind, lernt die KI nach und nach das Erfahrungswissen, das notwendig ist, um zum Beispiel abzuschätzen, wie sich eine einstündige Verspätung eines Lkws auf den Durchlauf der einzelnen Aufträge im Gesamtgefüge des Umschlagszentrums auswirkt.

Die mit Abertausenden historischen Daten trainierte KI ist dann in der Lage, für jede neue Ausgangssituation die zu erwartenden Verzögerungen bei der Abarbeitung einzelner Sendungsaufträge zu prognostizieren. In einer Übersicht gibt die Software für den jeweiligen Arbeitstag zu jedem Auftrag an, um wie viele Stunden oder Minuten sich die Bearbeitung unter den gegebenen Bedingungen verzögern wird. Das Yardmanagement gewinnt dadurch wertvolle Zeit, um mit Maßnahmen wie Veränderungen in der Auftragsreihenfolge oder Einsatz zusätzlicher Human-Power an einzelnen Stationen gegenzusteuern. »Aktuell testen wir für unsere Software zusätzlich ein Ampelsystem, um das Yardmanagement noch einfacher und schneller vor besonders kritischen Situationen warnen zu können«, ergänzt Sonnleitner.

Flexibel einsetzbare KI-Unterstützung

Außer für die Durchlaufanalysen in der Logistik unterstützen die Forscher*innen der Fraunhofer-Arbeitsgruppe SCS mit ihrer Prognose-Software weitere Industriebereiche. Im Produktionsumfeld lassen sich damit beispielsweise kritische Situationen durch den Ausfall einzelner Maschinen oder Verzögerungen bei der Materialbereitstellung schneller erkennen und in ihren Auswirkungen auf komplette Prozessketten beurteilen. In einem anderen Anwendungsbeispiel haben die Systementwickler*innen mit ihrer Software ein Predictive Maintenance-System für die Wartung von Maschinen umgesetzt. Das Kausalitätsmodell wurde dazu so aufgebaut, dass es das Wissen der Servicetechniker*innen zur Verknüpfung und Beurteilung von Sensor- und Maschinendaten enthält. Das System kann so automatisiert kritische Maschinenzustände frühzeitig feststellen und rechtzeitig vor einem möglichen Ausfall wegen Verschleiß oder einer notwendigen Wartung warnen.

(ted)

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