Das ADA Lovelace Center for Analytics, Data and Applications verknüpft Forschung und Anwendung von künstlicher Intelligenz. Forscher*innen unterstützen die Industrie durch neue Data Analytics-Verfahren und Algorithmen. Ein Entwicklungsfeld ist der Einsatz künstlicher Intelligenz in logistischen Entscheidungsprozessen entlang der Wertschöpfungsketten von Produkten und Dienstleistungen. Julius Mehringer, Leiter des Projektteams »Selbstoptimierende Adaptive Logistische Netzwerke«, gibt einen Überblick über die Chancen und Perspektiven, die dabei für unterschiedliche Branchen entstehen.

Hallo Herr Mehringer. Sie wollen mit KI-Lösungen Unternehmen bei Entscheidungen entlang der gesamten Supply Chain ihrer Produkte unterstützen. Die Supply Chain beispielsweise eines Fahrzeugs umfasst aber sehr vielfältige Entscheidungsschritte. Wie soll eine künstliche Intelligenz hier die spezifisch sinnvollen Antworten liefern?

Das Themenfeld unseres Projekts »Selbstoptimierende Adaptive Logistische Netzwerke« ist in der Tat sehr breit aufgestellt. Das heißt aber nicht, dass mein Team und ich an einer »allwissenden Logistikglaskugel« arbeiten. Der Einsatz künstlicher Intelligenz, der einen echten Mehrwert bietet, bedeutet immer, eine sehr konkrete Frage mathematisch exakt zu modellieren. Und genau das ist unser Ziel. Gemeinsam mit Unternehmen identifizieren wir deshalb einzelne Problemstellungen, bei denen Verfahren der künstlichen Intelligenz die Entscheidungsverantwortlichen unterstützen können – und zwar entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette. Verfahren etwa zur mathematischen Optimierung oder auf maschinellem Lernen basierende Prognosen können dann beispielsweise die Produktionsplanung eines Bauteils unterstützen. Oder die langfristige Planung der Fertigung und Lagerhaltung von Ersatzteilen eines Fahrzeugs, um zum Zeitpunkt des Auslaufens eines Modells ausreichende Bestände bevorratet zu haben.

Das Etablieren von KI im industriellen Prozess ist kein Forschungsprojekt an sich. Sie konzentrieren sich weniger auf die konkrete Umsetzung im Einzelfall, sondern forschen an grundsätzlichen Lösungen.

Dazu gehören unter anderem Mischprobleme in der Lebensmittelproduktion. Die einzelnen Waren bestehen hier häufig aus einer großen Anzahl einzelner Grundstoffe. Jede Charge dieser Grundstoffe unterscheidet sich jedoch in der Qualität der Inhaltstoffe, zum Beispiel in Bezug auf den Vitamin- und Mineralgehalt oder die Belastung mit Rückständen wie Nitraten. Die Produktverantwortlichen müssen deshalb anhand ihrer Lagerbestände die Mischung der Zutaten täglich so kombinieren, dass das Endprodukt Qualitätskriterien und Grenzwerte zuverlässig erfüllt. Diese Aufgabe lösen die Expert*innen in der Industrie heute noch in erster Linie mit individuellem Erfahrungswissen und ein Stück weit auch schlicht mit Bauchgefühl.

Und wie kann künstliche Intelligenz diesen Entscheidungsprozess unterstützen?

Ein Schwerpunkt, den wir in diesem Teilprojekt verfolgen, ist die mathematische Optimierung. Zwar ist es prinzipiell auch möglich, die Mischproblematik rein rechnerisch zu lösen. Mit der Anzahl der einzelnen Mischgüter steigt die Komplexität der Aufgabe jedoch schnell an, sodass eine Berechnung in sinnvoller Zeit nicht möglich ist. Durch die mathematische Analyse sowie ein effizienteres Lösen der Optimierungsalgorithmen lässt sich die Komplexität des Modells der Mischprozesse so weit vereinfachen, dass wir hinreichend zuverlässig optimale Mischungen in kürzester Zeit liefern können.

An der Qualität und der Zusammensetzung der Grundstoffe können Sie aber nichts ändern. Kann es also passieren, dass Ihr Optimierungssystem zu dem Schluss kommt, dass die geforderte Qualität mit den vorhandenen Chargen nicht möglich ist?

Das wäre in der Tat denkbar. Das ist auch der Grund, warum die Optimierung nur ein Teil unserer Problemlösung ist. Ergänzend dazu unterstützen wir die Produktionsverantwortlichen mit einem Prognosesystem. Kern dieses Systems sind KI-Algorithmen, die Vorhersagen zu Qualität und Bedarfen der verschiedenen Grundstoffe erstellen. 

Sie gehen aber noch einen Schritt weiter. 

Richtig. Die Systeme zur mathematischen Optimierung und Prognose arbeiten bei unserem Lösungsansatz nicht isoliert voneinander. Wir verknüpfen die Ergebnisse der beiden Analysebereiche zu einem System. Jetzt können wir aus den Berechnungen konkretere Handlungsempfehlungen für Unternehmen ableiten. In unserem Beispiel also, in welchem Umfang und wie viele unterschiedliche Chargen der Produkte sie in ihrem Lager vorhalten sollten, um zu jeder Zeit die gewünschten Mischprodukte herstellen zu können. Für jede Handlungsempfehlung ist dabei immer auch angegeben, wie sicher oder unsicher die zugrundeliegende Datenbasis und die daraus resultierenden Berechnungen sind. Die Expert*innen des Unternehmens haben also stets den Überblick, was ihnen die KI-Unterstützung aufgrund welcher Datengrundlage liefert. Sie können dann entscheiden, welche Vorschläge sie für ihre Logistikplanung übernehmen und welche nicht.

Inwiefern unterscheidet sich Ihr Ansatz und Ihr Vorgehen von dem, was viele Unternehmen derzeit auch eigeninitiativ in Zusammenarbeit mit ihren Digitalisierungsteams und externen Partnern umsetzen?

Der Clou bei unseren Forschungen ist: Wir fokussieren uns in jedem unserer Teilprojekte auf eine konkrete Problemstellung, die sich bei unseren Industriepartnern stellt. Die mathematischen Modelle und Bausteine unserer Berechnungssysteme aber legen wir grundsätzlich so an, dass das KI-System für die Optimierung, Prognose und Empfehlung ein generisch einsetzbares Basissystem für alle ähnlich gelagerten Problemstellungen darstellt. Die Unterstützung bei Mischprozessen in der Lebensmittelindustrie zum Beispiel ist also auch für viele Produkte in der Baustoffindustrie geeignet. Und in dem Bereich der Koppelung von Systemen der mathematischen Optimierung mit Prognosemodellen arbeiten wir in einem sehr innovativen Forschungsfeld, in dem wir zu weiten Teilen echtes Neuland betreten. Zusätzlich verfolgen wir das Ziel, die Lösungen für konkrete Einzelprobleme so zu gestalten, dass sie sich miteinander kombinieren lassen. Mittelfristig entsteht dadurch ein integriertes Datenökosystem, das die Unternehmen über mehrere Stufen und Partner der Wertschöpfungsketten hinweg unterstützt. 

Wie wichtig ist dafür das ADA Lovelace Center?

Systeme zu entwickeln, die für möglichst viele Anwendungsfälle passen oder neue Ansätze und Methoden der Prescriptive Analytics, also dem Bereich der KI-gestützten Handlungsempfehlungen, umzusetzen – das sind Leistungen, die ein reines Industrieprojekt zeitlich und finanziell nicht leisten kann. Am ADA Lovelace Center als vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie geförderter Plattform dagegen sind sowohl die Kompetenzen im KI-Bereich als auch die notwendige People Power vorhanden, um grundlegende Forschung zu betreiben, die der gesamten Wissenschafts-Community zu Gute kommt. Gleichzeitig arbeiten wir von der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer IIS in dem Kompetenzzentrum mit weiteren führenden Wissenschaftseinrichtungen im KI-Umfeld und den Unternehmen als Anwender eng zusammen. Damit ist sichergestellt, dass wir als Wissenschaftler*innen nicht nur das theoretische Wissen voranbringen, sondern damit auch einen realen Mehrwert für die Industrie und die Gesellschaft generieren. 

(stw)

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Julius Mehringer 
  • Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS
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