Automatisch fahrende Fahrzeuge brauchen eine Fülle an Informationen. Deshalb sollen sie mit anderen kommunizieren. Eine Car2X-Kommunikation, die auch Fahrmanöver beeinflusst, setzt allerdings ausreichend viele vernetzte Fahrzeuge voraus. Der Datenaustausch läuft dann über Mobilfunk und WLAN. Aber aktuelle Modelle haben die entsprechende Ausstattung noch nicht, denn Neuwagenkäufer*innen müssten für eine Technik bezahlen, die sie aktuell kaum nutzen könnten. Neuartige Car2X-Anwendungen sollen diese Misere beseitigen: Sie schaffen schon Mehrwerte, wenn erst wenige Fahrzeuge vernetzt sind.

Etwa sieben Prozent der deutschlandweit zugelassenen Pkws werden jedes Jahr durch einen Neuwagen ersetzt. Selbst dann, wenn ab sofort alle neuen Autos mit einer Car2X-Vernetzung über WLAN und Mobilfunk ausgerüstet wären, würde es rechnerisch also rund sieben Jahre dauern, bis die Flotte der kooperationsfähigen größer ist als die der konventionellen Fahrzeuge. Realistischere Schätzungen gehen sogar von einem Zeitraum von mindestens zehn Jahren aus, da die Autohersteller die Kommunikationstechnik erst nach und nach für ihre neuen Modelle anbieten dürften. Das Erreichen einer Majorität auf den Straßen aber wäre ein wichtiger Einschnitt, um kooperative Fahrfunktionen zu etablieren. Diese wiederum sind Voraussetzung für eine hohe Sicherheit und Effizienz beim teilautomatisierten und vollautomatisierten Fahren. »Ab einer Durchsetzungsquote von rund 50 Prozent bringt die Vernetzung und Kooperation zwischen den Fahrzeugen große Vorteile. Beispielsweise, weil dadurch einzelne Gefahrensituationen vermieden oder der Verkehrsfluss verbessert wird. Das haben zahlreiche Studien anhand von Simulationen und Realtests nachgewiesen«, erklärt Jens Ziehn vom Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB. Wann und vor allem wie dieser Meilenstein erreicht werden kann, sei allerdings noch unklar. Denn die Masseneinführung Car2X-fähiger Fahrzeuge am Markt wird mehr und mehr zum Henne-Ei-Problem. Warum sollen sich Neuwagenkäufer*innen heute für ein teureres Fahrzeug mit komplexer Car2X-Anbindung entscheiden, wenn sie keinen unmittelbaren Nutzen davon haben? »Der Kauf bringt im Moment für den Einzelnen oder die Einzelne kaum einen Mehrwert, es kostet nur etwas«, resümiert Ziehn. Und das habe zur Folge, dass im Zweifel vor allem diejenigen Pkws die Autohäuser verlassen, deren Hersteller auf das aktuell »sinnlose« Modul verzichten. Mit der Konsequenz, dass sich die Marktdurchdringung vernetzungsfähiger Fahrzeuge noch weiter in die Zukunft verschiebe und sich auch weitere Entwicklungen des (teil-)autonomen Fahrens verzögern könnten.

 

Car2X-Einführung evolutionär gestalten

Wissenschaftler*innen des Fraunhofer IOSB und Partner*innen des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI, des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie ICT, des Karlsruher Institut für Technologie KIT und des FZI Forschungszentrum Informatik haben deshalb untersucht, ob und wie es möglich ist, den Rollout der Car2X-Technologie zu beschleunigen und abzusichern. Im Projekt »iFORESEE« entwickelten sie neue Anwendungen für vernetzte Fahrzeuge, die ihren Fahrer*innen nun bereits bei einer Durchsetzungsquote von etwa fünf bis zehn Prozent einen Mehrwert bieten. »Unsere Lösungen arbeiten außerdem bereits bei geringen Automatisierungsgraden, also im Rahmen einer Fahrassistenz, wie sie in den aktuellen Fahrzeuggenerationen schon üblich ist«, erklärt Ziehn. Um einen späteren Übergang zu fördern, nutzen Ziehn und sein Team bei ihren Car2X-Anwendungen ausschließlich Technikausstattung, die auch in Zukunft Kooperationsfunktionen automatisierter Fahrsysteme ermöglichen kann. »Sobald die Mehrheit der Bestandsfahrzeuge vernetzungsfähig ist und Fahrzeuge automatisiert gesteuert werden, lassen sich die Übergangslösungen dann nach und nach evolutionär in die automatischen Fahrsysteme integrieren«, betont Ziehn.

Die im Projekt iFORESEE entwickelten Car2X-Anwendungen ermöglichen kooperatives Fahren bereits bei einem Anteil vernetzter Fahrzeuge von fünf bis zehn Prozent. Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB

Car2X assistiert Fahrer*innen

Wie die Car2X-Übergangslösungen von iFORESEE arbeiten, erklärt Ziehn am Beispiel des Engstellenassistenten. Ausgangssituation ist eine Baustelle, ein Umzugs-Lkw, oder ein anderes Hindernis, das eine Richtungsfahrspur blockiert. Dahinter stauen sich bereits mehrere Fahrzeuge, denn im Gegenverkehr bietet sich kaum eine Lücke, um das Hindernis zu umfahren. »Wären hier bereits mehrheitlich vernetzte und automatisiert gesteuerte Fahrzeuge beteiligt, würde der Verkehrsfluss kaum gestört«, so Ziehn. Über Car2X-WLAN-Verbindungen würden die Fahrsysteme aushandeln, welches Fahrzeug wann stehen bleibt oder fährt, um inklusive der unvernetzten Fahrzeuge für alle Beteiligten ein möglichst zügiges Weiterkommen zu gewährleisten. Soweit die Situation aus der Zukunftsperspektive.

Aber wie kann Car2X hier unterstützen, wenn nur wenige der beteiligten Fahrzeuge die Vernetzungstechnik an Bord haben und nicht automatisch, sondern von ihren Fahrer*innen gesteuert werden? »Wir haben dafür ein Assistenzsystem entwickelt, das den Fahrer*innen vernetzungsfähiger Fahrzeuge ermöglicht, den Verkehrsfluss an der Engstelle insgesamt zu beschleunigen«, erklärt Ziehn. Viele Fahrer*innen wären zwar bereit, kurz zu warten, um zwei, drei oder sogar vier Fahrzeuge das Hindernis umfahren zu lassen. Diese Option haben Fahrer*innen auf der freien Spur derzeit allerdings nicht. Bleiben sie freiwillig stehen, wird in den allermeisten Fällen die gesamte Kolonne passieren. »Genau das kann der Engstellenassistent verhindern«, so Ziehn. Bereits beim Annähern an die Engstelle empfängt das System Informationen von einem ebenfalls kooperativen Fahrzeug, das im angestauten Gegenverkehr wartet. Zum Beispiel auf Warteposition vier. Dessen Fahrer*in signalisiert der Assistent nun die »Bitte«, sich der Umfahrung nicht anzuschließen, sondern als erster hinter dem Hindernis wieder anzuhalten. Der*die Fahrer*in auf der freien Fahrspur weiß damit, dass er nur kurze Zeit warten wird. Die Entscheidung für einen Fairness-Halt wird damit sehr wahrscheinlich. Auch das vernetzte Fahrzeug auf der blockierten Spur profitiert, obwohl es auf Bitte des Engstellenassistenten noch einmal hinter dem Hindernis stehen bleibt. »Denn ohne Car2X-Assistenz hätten die Fahrzeuge vor ihm auch nicht umfahren können. Dank des Engstellenassistenten aber rückt er zumindest bis auf Warteposition eins vor und kann bei der nächsten Gelegenheit passieren«, betont Ziehn.

Mit dem Car2X-Engstellenassistent lässt sich der Verkehrsfluss an einer Engstelle für alle Fahrzeuge beschleunigen. Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB

Durch Mehrwertanwendungen Car2X-Rollout fördern

Insgesamt entwickelten die Forscher*innen dreizehn Car2X-Anwendungen für verschiedene Szenarien, bei denen erste vernetzungsfähige Fahrzeuge Vorteile für ihre Fahrer*innen erlangen oder den Verkehr insgesamt positiv beeinflussen. Die Bandbreite reicht dabei vom Engstellenassistenten über ein System, das durch Vernetzung des Fahrzeugs mit der Parkrauminfrastruktur freie Parkplätze anzeigt, bis hin zur Aktualisierung des Kartenmaterials mit Hilfe von anderen vernetzten Fahrzeugen übermittelten Informationen zu Baustellen. »Als Verbindungsschnittstelle zwischen den Fahrzeugen und mit der Verkehrsinfrastruktur nutzen wir dabei sowohl Car2X über ad-hoc-WLAN als auch über Mobilfunk«, erklärt Ziehn. Letzterer ermöglicht beispielsweise ein assistiertes Auffahren auf die Autobahn. Bereits Minuten bevor ein Fahrzeug sich der Auffahrt nähert, weiß sein Car2X-System dadurch, ob ein anderes vernetztes Auto die Einfädelstelle ungefähr zur selben Zeit passieren wird. Per Tempomat-Steuerung lässt sich die Geschwindigkeit beider Fahrzeuge so synchronisieren, dass auch bei dichtem Verkehr ein gefahrloses Einfahren auf die Autobahn gewährleistet ist.

Sämtliche Anwendungsszenarien für die Einführungsphase der Car2X-Technologie haben die Projektpartner*innen im Rahmen von Fahrten im öffentlichen Verkehr und auch durch umfangreiche Simulationen getestet. Parallel dazu haben sie die Akzeptanz ihrer Übergangslösungen bei Nutzer*innen untersucht und analysiert, welche Bedingungen und Benefits die Umsetzung ihres Gesamtkonzeptes für Gesellschaft und Markt mit sich bringt. »Es hat sich gezeigt, dass Entwicklungen, wie sie iFORESEE vorgestellt hat, die Chancen eines breiten Rollouts der Car2X-Technologie erheblich steigern können«, resümiert Ziehn.

Über Mobilfunk synchronisieren vernetzte Fahrzeuge ihre Ankunft an einer Autobahnauffahrt und ermöglichen so ein sicheres Einfahren auch bei dichtem Verkehr. Bild: Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB

Gebündelte Expertise für die Mobilitätsforschung

Das Projekt »iFORESEE« führten die Projektpartner*innen im Rahmen des Leistungszentrums »Profilregion Mobilitätssysteme Karlsruhe« durch. Diese Wissenschaftsinitiative bündelt die Kompetenzen der Karlsruher Institutionen für Forschung, Lehre und Transfer im Bereich der Mobilitätssysteme und hat von 2016 bis 2021 in zahlreichen Projekten an der Weiterentwicklung und Initialisierung zukunftsfähiger Mobilitätslösungen geforscht. Gefördert wird die Profilregion mit Eigenmitteln der Fraunhofer Gesellschaft sowie seitens des Landes Baden-Württemberg zu gleichen Teilen durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus, sowie durch Eigenanteile der beteiligten Forschungseinrichtungen.

 

(stw)

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