Sicherheit im Straßenverkehr ist eines der Versprechen, die das autonome Fahren erfüllen muss. In jeder Fahrsituation. Nicht nur auf der Autobahn oder beim Einparken. Komplexe Verkehrsentwicklungen, wie an einer Innenstadtkreuzung mit dichtem Mischverkehr, könnten das Erfassungsvermögen leistungsfähiger Fahrzeugsensorik allerdings überfordern. Eine smarte Infrastruktur soll die selbstfahrenden Autos daher aktiv unterstützen: mit Informationen und Handlungsempfehlungen zum Verkehrsgeschehen aus der Vogelperspektive. Die Fraunhofer-Testkreuzung zeigt wie das funktioniert.

Die Ampel zeigt grün. Der Fahrweg ist frei. Kein weiterer Verkehrsteilnehmer ist in Sicht. Ein Pkw fährt in die Kreuzung ein, als plötzlich ein Fahrrad von links und trotz Rotlicht hinter einem geparkten Lieferwagen in den Fahrweg rollt. Keine Chance. Ein Zusammenstoß ist unvermeidlich – für einen menschlichen Lenker ebenso wie für die autonome Fahrzeugsteuerung. Selbst die hochsensible Fahrzeugelektronik wurde von der Gefahrensituation unvermittelt überrascht.
Zurück auf Anfang. Dieses Mal haben die Forscher*innen ihre »intelligente Kreuzung« aktiviert. Trotz des freien Fahrwegs und Grünlichts reduziert das autonom gesteuerte Fahrzeug frühzeitig seine Geschwindigkeit und ist bereits bremsbereit, bevor das Fahrrad in sein Sichtfeld rollt. »Die entscheidende Information dafür liefert die Infrastruktur der Kreuzung selbsttätig per Funk direkt an die autonomen Steuerungssysteme des Fahrzeugs«, erklärt Dr. Thomas Otto vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI. Fraunhofer-Wissenschaftler*innen haben dafür ein echtzeitfähiges System zur Umfeldwahrnehmung entwickelt und auf dem Testgelände des Fraunhofer IVI installiert. An dem Projekt »Smart Intersection« sind neben dem Fraunhofer IVI auch Teams vom Fraunhofer-Institut für Angewandte und Integrierte Sicherheit AISEC, des Fraunhofer-Instituts für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut HHI und des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS beteiligt.

»Durch die gemeinsame Entwicklung der Erfassungssensorik, Datenfusion, der Informationsaufbereitung und der Funktechnologie als optimal aufeinander abgestimmte Einheit arbeitet der gesamte Systemprozess nicht nur zuverlässig und sicher. Er benötigt auch – was beim Thema Verkehrssicherheit grundlegend ist – eine extrem kurze Gesamtlaufzeit«, betont Prof. Andreas Festag vom Fraunhofer IVI, der gemeinsam mit Otto die Projektforschungen betreut.

Gefahrenerkennung per Birdview

Um das Verkehrsgeschehen im gesamten Kreuzungsbereich erfassen zu können und »blinde Bereiche« auszuschließen, setzen die Wissenschaftler*innen Kameras ein. Diese sind – ähnlich wie die an vielen innerstädtischen Straßen bereits installierten Systeme – an Masten befestigt, so dass sie den Straßenraum aus der Vogelperspektive einsehen können. Bei der noch verhältnismäßig überschaubaren Testkreuzung genügen drei Kameras. Für das Monitoring größerer Kreuzungsbereiche sollten je nach Gegebenheiten auch mehrere eingesetzt werden. Zusätzlich ist das System mit einem lokalen digitalen Knoten ausgestattet. Hier werden die Videos der Kameras gesammelt und ausgewertet. Mit Unterstützung einer KI analysiert eine Software dafür die Position und Art jedes Verkehrsteilnehmers im Kreuzungsbereich – Kraftfahrzeuge, Busse oder die Straßenbahn sowie Radfahrer*innen und Fußgänger*innen. Alle Objekte werden in eine digitale Objektkarte eingetragen, die das gesamte Verkehrsgeschehen von oben betrachtet abbildet.

»Die Fusion der Umfelderkennung aus verschiedenen Blickwinkeln gewährleistet eine lückenlose Objekterfassung, auch wenn zum Beispiel ein parkender Lkw die Sicht einer Kamera beeinträchtigt«, sagt Otto. Zudem sei es durch den Abgleich über verschiedene Perspektiven möglich, Fehlinterpretationen der Daten einer einzelnen Kamera, etwa bei ungünstigen Lichtverhältnissen, wirksam auszuschließen. »Außerdem übernimmt das Analysesystem des Knotens das Tracking der Objekte über die Zeit. So wissen wir, welches Objekt sich wie schnell in welche Richtung bewegt und können die Objektkarte mit zusätzlichen Informationen anreichern«, ergänzt Festag.

Bei der intelligenten Kreuzung unterstützt die Infrastruktur die autonomen Fahrsysteme der Fahrzeuge - insbesondere mit Informationen, die die Fahrzeugsensorik selbst nicht erfassen kann. Bild: bearbeitet von Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie, Bild von Fraunhofer IVI

Sicher vernetzt ohne Timelag

Für den schnellen Datenaustausch zwischen den Systemkomponenten verwendet das Team Funkanbindungen im Millimeterwellenbereich. Eine am Fraunhofer HHI entwickelte mm-Wave-Technologie bietet dabei hochzuverlässige und hochperformante Übertragungsraten. Ebenso grundlegend ist die Absicherung von Funkschnittstellen und der Daten gegen mögliche Angriffe. Arbeitsgruppen von Fraunhofer AISEC und Fraunhofer IIS haben deshalb spezielle Security-Features in der Umfelderkennung und im Kommunikationssystem implementiert. Die Features analysieren unter anderem das Verhalten der KI, die in dem digitalen Analyseknoten die Objekterkennung durchführt. Abweichungen vom Normalverhalten, die auf einen unberechtigten Eingriff in das System hinweisen, werden dadurch zuverlässig erkannt. Eine weitere Sicherheitskomponente verknüpft die Datenpakete vor der Übertragung über die Funkschnittstellen mit fälschungssicheren Signaturen.

Infrastruktur unterstützt Fahrzeugsysteme

Car-to-X-fähige Fahrzeuge sind nun in der Lage, die digitalen Objektkarten beim Heranfahren an die Kreuzung über ihre Kommunikationsschnittstelle zu empfangen. Die Signaturen der Daten gewährleisten dabei, dass deren Quelle und Inhalt vertrauenswürdig ist. Die Steuerungssysteme für autonomes oder autonom-assistiertes Fahren können die Informationen aus der Objektkarte als zusätzlichen Input zu den Beobachtungen der fahrzeugeigenen Sensorik nutzen, um sichere Fahrmanöver zu berechnen und planen. »In welchem Umfang und wie das System diese Informationen verarbeitet, bleibt zunächst in der Verantwortung des jeweiligen Fahrzeugs«, erläutert Otto.

Im Rahmen des Projekts erproben die Wissenschaftler*innen allerdings auch weitergehende Einsatzmöglichkeiten. Zum Beispiel könnte die »intelligente Kreuzung« künftig mit der Objektkarte auch Empfehlungen liefern, welche Fahrmanöver für die einzelnen Fahrzeuge aus der Gesamtsicht der Verkehrssituation heraus am besten geeignet sind, um den Verkehrsfluss und die Sicherheit in dem Kreuzungsbereich zu maximieren. Noch einen Schritt weiter geht das Projektteam mit Ansätzen, bei denen die Infrastruktur aktiv in die Autonomiefunktionen der Fahrzeuge eingreift. Solche Einsatzszenarien sind beispielsweise sinnvoll, um den Rangier- und Fahrverkehr auf einem Betriebsgelände optimal und sicher zu organisieren.

Von der Testkreuzung zum Realeinsatz

Die Labortests der »intelligenten Kreuzung« auf dem Gelände von Fraunhofer IVI sind inzwischen erfolgreich abgeschlossen. Im Folgeprojekt »Smart IO« soll das System nun in den realen Straßenverkehr integriert werden. Dazu entwickeln die Forscher*innen ihr System derzeit weiter. Unter anderem setzen sie für die Umfelderkennung im Realbetrieb Infrarotkameras ein. Dadurch lässt sich der Schutz der Privatsphäre der erfassten Verkehrsteilnehmer umfassend gewährleisten. Aktuell laufen die Vorbereitungen für die Installation des Systems an einer großen Kreuzung in Dresden sowie in Hamburg im Rahmen des ITS World Congress 2021. Ein weiteres Folgeprojekt ist »Smart Roundabout«, bei dem das System auf die Anforderungen eines Kreisverkehrs übertragen und im realen Straßenverkehr in Ingolstadt realisiert werden sollen.

»Smart Intersection« und »Smart IO« sind Projekte des Fraunhofer Forschungszentrums IoT-COMMs im Cluster Cognitive Internet Technologies.

(ted)

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