Kundenindividuelle Produktion ist in der Chemieindustrie nichts Neues. Bis eine Farbe, eine Beschichtung oder ein Materialmix aber alle geforderten Eigenschaften eines Kundenauftrags erfüllt, sind meist langwierige und schwer zu kalkulierende Laborversuche erforderlich. Denn Überraschungserfolge sind dabei ebenso möglich wie wiederholtes Scheitern. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz sollen sich diese Versuchs- und Irrtumsszenarien nun ändern. Geforscht wird dabei von der Ziellinie aus.

»Backe, backe Kuchen«: Der Kinderreim vermittelt den Eindruck, dass es ganz einfach ist, ein leckeres Gebäck selbst zu kreieren. Warum ist es dennoch so schwierig, seine eigene Wunschvorstellung vom perfekten Kuchen- oder Tortengenuss in die Tat umzusetzen? Die Antwort ist so einfach wie einleuchtend: Weil es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, Zutaten wie Mehl, Eier, Gewürze und Triebmittel unterschiedlich zu gewichten und die Bearbeitungsverfahren zu kombinieren: Vom Rühren und Kneten bis zum Einstellen der Temperatur im Ofen. Drauflos zu backen, ohne sich an das Rezept zu halten, dürfte nur in den wenigsten Fällen ein zufriedenstellendes Ergebnis liefern. Was aber wäre, wenn es eine Art Kuchenwunschmaschine gäbe? In die Mann oder Frau nur einzugeben bräuchte, wonach der Kuchen schmecken, wie er aussehen und wie er sich auf der Zunge anfühlen soll? Und die dann das exakte Rezept dazu ausspuckt? Zugegeben: Noch gibt es solch eine Rezeptmaschine nicht. In der chemischen Industrie jedoch ist eine ähnlich funktionierende »Softwaremaschine« seit Neuestem bereits im Einsatz: Ein vom Forscherteam des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM entwickeltes Softwaresystem erleichtert und unterstützt die Produkt- und Materialentwicklung im Industrielabor.

Virtuelle Tests statt Laborversuche

Das kundenindividuelle Anpassen oder gar Neuentwickeln von Produkten gehören in vielen Laboren der chemischen Industrie zu den »üblichen« Aufgaben. Bei einem Lackhersteller könnte solch ein Auftrag zum Beispiel darin bestehen, die Oberflächenbeschichtung für eine neue Küchenserie zu entwickeln. Sie soll gleichzeitig hochglänzend, widerstandfähig und UV-beständig sein. Zusätzlich muss sie sich bei niedrigen Temperaturen aufbringen lassen, um das Untergrundmaterial im Produktionsprozess nicht zu beschädigen. Für einen anderen Auftrag suchen Chemiker und Verfahrensspezialisten eine neue Materialzusammensetzung für einen Elektronikhersteller. Hier muss das Material Einwirkungen von Säuren und sehr hohen Temperaturen dauerhaft standhalten. Die Wünsche und Anforderungen der Auftraggeber können also äußerst vielfältig und hochspezifisch sein. »Entsprechend komplex ist meist auch die Herstellung des jeweils gewünschten Produkts«, sagt Dr. Michael Bortz vom Fraunhofer ITWM. Schließlich müssen die Experten aus der Vielzahl von Variationsmöglichkeiten bei Bestandteilen, -mengen und Verfahrensprozessen die »passende« Kombination herausarbeiten.
Bei der Suche nach einem Produkt, das so zusammengesetzt ist, dass es alle Kundenwünsche erfüllt, arbeiten Labore nach wie vor mit Methoden, die auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum basieren. Lösungen zu finden wird damit zu einem langwierigen und teuren Prozess. Der erste Schritt besteht dabei darin, anhand von Erfahrungswerten eine erfolgsversprechende Testkombination aus Bestandteilen und Verfahren zu entwickeln. So könnte etwa die zusätzliche Beimischung einer als besonders widerstandsfähig erkannten Komponente für besseren Oberflächenglanz den Lack verbessern – oder auch nicht. Denn natürlich kann sich eine Idee auch nach ersten erfolgversprechenden Tests als Sackgasse entpuppen. So müssen die Entwicklerteams in der Regel immer wieder neue Mischungsverhältnisse und Bearbeitungsvarianten zusammenstellen und testen, um sich so Schritt für Schritt den Zielvorgaben anzunähern.

Mit den neuen, lernfähigen Softwaresystemen des Fraunhofer ITWM lassen sich diese Labortests nun zu einem großen Teil virtuell und automatisch ausführen. Dabei ermöglichen speziell für das Labor angepasste Schnittstellen das Einbinden des bereits vorhandenen Know-hows: Daten zu Zusammensetzung und Merkmalen bereits durchgeführter Laborversuche werden intelligent mit dem Softwaresystem des Fraunhofer ITWM verknüpft. Außerdem nutzt die Software auch Informationen über die zur Verfügung stehenden Bearbeitungsverfahren. Sind alle Kennzahlen eingegeben, versetzen leistungsfähige Algorithmen und maschinelle Lernverfahren die Software in der Lage, umfangreiche Labortests für neue Materialien zu simulieren und auszuwerten. Genutzt werden dafür nur die Test- und Entwicklungsprogramme, die zum Auftrag und zum Labor »passen«. »Unsere Server-Client-Architektur sorgt dafür, dass die Nutzer die jeweils nötigen einzelnen Programme bequem und bedarfsgerecht als Software-as-a-Service einsetzen können«, sagt Bortz. Zudem werde eine je nach Bedarf anpassbare Benutzeroberfläche zur Verfügung gestellt.

Selbstlernende Software stellt Produktentwicklung auf den Kopf

Die Unterstützung der Laborteams durch das Softwaresystem geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Die intelligenten Analyse- und Simulationsprogramme können nicht nur virtuelle Versuche nach den Mischungs- und Verfahrensvorgaben der Systemnutzer durchführen. Die Software ist auch in der Lage, mögliche Versuchsanordnungen komplett selbstständig virtuell zusammenzusetzen und zu nutzen. Bisher mussten die Entwicklerteams jede neue Variation eines Produktes selbst definieren. Sie mussten also zum Beispiel vorgeben, welche zusätzliche Beimischung sie wählen wollen, um eine Oberflächenbeschichtung sowohl widerstandsfähiger als auch temperaturunempfindlicher zu machen. Erst bei dem entsprechenden Laborversuch konnte dann die Software den realen Test durch eine Simulation ersetzen. Die Softwarelösung des Fraunhofer-Teams ermöglicht dagegen nun erstmals eine vollständig programmgesteuerte Entwicklung der Mischungen für chemische Produkte.

Letztlich hinterlegen die Produktentwickler im Softwaresystem also nur noch die Zielanforderungen ihres Kunden. »Die künstliche Intelligenz der Software sucht dann selbsttätig nach möglichen Zusammensetzungen und Verfahrensprozessen und simuliert die entsprechenden Tests dazu«, erklärt Bortz. Ein erster Pilot läuft bereits erfolgreich in der Produktentwicklung eines chemischen Betriebs. »Prinzipiell lässt sich ein ähnliches System aber für die Produkt- und Materialentwicklung in allen Anwendungsbereichen entwickeln, in denen es um die Suche nach der richtigen Mischung von Bestandteilen und Verfahrensprozessen geht«, resümiert Bortz. Selbst für das Backen von Kuchen.
(stw)

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