Die Innenstädte drohen am motorisierten Individualverkehr zu ersticken. Die Behörden wollen (und müssen) die Verkehrsbelastung verringern. Und auch viele Bürgerinnen und Bürger möchten aktiv dazu beitragen, die Lebensqualität in ihrem Wohnumfeld zu erhöhen. Der gemeinsame Wille ist da. Was fehlt, sind geeignete Mittel und Wege der Zusammenarbeit zwischen den Behörden, den Städtern und der ortsansässigen Wirtschaft. In Stuttgart entwickeln und erproben die Akteure der Stadtgesellschaft mit Unterstützung von Forschern neue Konzepte zu Mobilität und sozialem Miteinander im öffentlichen Raum.

Auch wenn es der Name des Projekts nahelegt: Das »Future City Lab: Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur« ist kein an einem festen Ort existierender Raum. Es ist eine offene Plattform, die es der öffentlichen Verwaltung, den Bürgerinnen und Bürgern, bürgerschaftlichen Initiativen und Unternehmen ermöglicht, gemeinsam Ideen und Konzepte für nachhaltige Mobilität zu entwickeln und erproben. Koordinator des vom Landesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden Württemberg sowie vom Bundesumweltamt unterstützten Projekts ist der »Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen« des Städtebau-Instituts der Universität Stuttgart. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisierten den Aufbau des Netzwerks und unterstützen die Zusammenarbeit der beteiligten Akteure aus Verwaltung, Bürgerschaft und Hochschulen. Neben Vortragsveranstaltungen, Diskussionsrunden und Workshops ist zentrales Mittel dieser offenen Kooperation die besondere Form des Realexperiments. Durch temporäre Installationen und Aktionen im öffentlichen Raum machen die Netzwerkpartner ihre Konzepte und Ideen für Anwohner und Interessierte in der Stadt Stuttgart erlebbar. »Ziel des Projekts ist also die erforderlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten zu schaffen, um unterschiedlichste »Realexperimente« auf Zeit einzurichten und dadurch Anwohner und Interessierte unmittelbar in die Entwicklung und Erprobung einer neuer Mobilitätskultur einzubinden«, erklärt Claudius Schaufler vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Sein Team begleitet das Projekt in Kooperation mit dem Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart aus organisationswissenschaftlicher Sicht. Die Erkenntnisse daraus sollen vor allem dazu dienen, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft dauerhaft zu vereinfachen und zu festigen.

Von der Idee zum Realexperiment

Was wäre, wenn? Wenn sich entlang der Wohnstraßen mitten in den Städten nicht mehr nur ein parkendes Fahrzeug an das nächste reiht? Wenn dazwischen am Straßenrand Freiflächen eingerichtet würden, die Anwohner und Passanten gemeinsam nutzen können – mit Blumenbeeten und Sitzbänken, die zum Verweilen einladen oder die Abstellmöglichkeiten für E-Bikes und Lastenräder zum Ausleihen bieten? Ob dies tatsächlich eine gute Idee ist, oder ob die dadurch wegfallenden Parkmöglichkeiten am Ende doch ein großes Ärgernis sind, lässt sich »am grünen Tisch« in der Regel weder von den Behörden noch von den Anwohnern schlüssig beantworten. Was liegt also näher, als es einfach auszuprobieren? Eben das ermöglicht das Reallabor-Netzwerk in Stuttgart. Auch wenn die Idee durch ihre einfache Umsetzbarkeit auf den ersten Blick besticht, ist die Realisierung solcher Parklets – selbst auf eine begrenzte Zeit – allerdings alles andere als trivial. »Dass eine Initiative aus der Bürgerschaft das Vorhaben plant, umsetzt und betreut, ist nur der erste Schritt. Insbesondere für die Verwaltung bedeutet solch ein Bürgerprojekt teils erhebliche Aufwände«, urteilt Schaufler. Denn weil es solch eine Umnutzung von Parkraum bisher kaum gab, seien die bestehenden Verordnungen und Verwaltungsroutinen nicht darauf vorbereitet. Unter anderem müssen deshalb also erst die Zuständigkeiten geklärt, die juristischen sowie verwaltungstechnischen Voraussetzungen geschaffen und die formalen Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Bürgerschaft und den Ämtern entwickelt werden. »Das Reallabor-Netzwerk bietet Überlegungen und Testszenarien wie diesen den idealen Rahmen. Gleichzeitig kann unser Forscherteam auch die Bedingungen eruieren, die notwendig sind, um solche Vorhaben dauerhaft in der Stadtgesellschaft zu etablieren«, sagt Schaufler. Übrigens: Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung durch die Forscherinnen und Forscher führten im Fall des Realexperiments »Parklets« schließlich dazu, dass in Stuttgart nun Bürgerinnen und Bürger oder Initiativen ganz einfach über ein Formular eine Umnutzung von Parkflächen auf Zeit beantragen können. Inzwischen hat sich das Stuttgarter Modell zudem zum Benchmark für viele weitere Kommunen deutschlandweit entwickelt.

Realtests für eine nachhaltige Mobilitäts- und Stadtkultur

Ein weiteres der durchgeführten Realexperimente ist das Projekt »Stadtregal«. Hierfür haben Architekturstudenten der Universität Stuttgart im öffentlichen Raum unter einer Straßenbrücke ein multifunktionales Möbelstück aufgebaut. Es besteht aus einer Kombination der Funktionen Küche, Schlafplatz, Lastenradverleih, Medikamentenschrank und einer Anlaufstelle für das Foodsharing. Genutzt wurde die Installation für Begegnungen von Menschen unterschiedlichster Milieus sowie für verschiedene Veranstaltungen und Diskussionen rund um die Thematik der sozialen Flächennutzung in der Stadt.

Seit der Einrichtung des Reallabor-Netzwerks vor fünf Jahren haben die beteiligten Akteure rund 200 Realexperimente und Veranstaltungen durchgeführt. Dazu zählen Workshops zur Ideengenerierung für Zukunftsmobilität ebenso wie Fahrrad-Korsos oder eine App, mit der sich gefahrene Fahrradkilometer zum Beispiel gegen einen Rabattbonus in Geschäften eintauschen lassen. Das Projekt Reallabor läuft noch bis zum Frühjahr 2020. »Die Zeit bis dahin wird unser Forscherteam vor allem dazu nutzen, Konzepte zu erarbeiten, die es den Behörden und der Zivilgesellschaft erleichtern oder sogar erst ermöglichen, ähnliche Aktivitäten und Aktionen für eine nachhaltige Mobilitätskultur dauerhaft auch außerhalb des Projektrahmens zu initiieren und umzusetzen«, resümiert Schaufler.

(stw)

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