Keine andere Branche steht so sehr für eine analoge Vorgehensweise wie das Baugewerbe. Gearbeitet wird von Hand, koordiniert per Erfahrung. Dabei sind das Potenzial und der Nutzen der Digitalisierung so hoch, dass sich Effizienzsteigerungen von 30 Prozent erreichen lassen. Im Interview sprechen Dr. Sebastian Velten vom Fraunhofer ITWM und Michael Heil, Geschäftsführer des eBusiness KompetenzZentrum im Bau- und Ausbauhandwerk über Projekte, die eine Digitalisierung im Handwerk merklich voranbringen könnten. 

Hallo Herr Velten, Hallo Herr Heil, die Digitalisierung ist in fast allen Branchen in Deutschland nicht so fortgeschritten, wie das zu wünschen wäre. Warum ist es notwendig, die Digitalisierung ausgerechnet im Handwerk als ein eigenes, gesondertes Projekt zu betrachten? 

Heil: Das Handwerk arbeitet mit einer Besonderheit, die es kaum mit anderen Branchen vergleichbar macht. Es geht in der Regel immer um Losgröße 1. Jedes Bauvorhaben ist unterschiedlich, jede*r Auftraggeber*in agiert anders. Und die Voraussetzungen auf der Baustelle sind ebenso unterschiedlich wie die Witterungseinflüsse. Es gibt deshalb kaum Softwarelösungen, die diesen Umstand abbilden. Das alles führt zu einer Unkalkulierbarkeit, die dazu führt, dass wir mit bis zu 70 Prozent verlustverdächtigen Zeiten auf den Baustellen rechnen müssen.

Velten: Allein deshalb reicht auch ein einzelnes, gesondertes Forschungsprojekt kaum aus. Dafür sind die Aufgaben und Ziele zu vielfältig. Dazu kommt: Die Digitalisierung im Handwerk liegt weit zurück – beispielsweise im Vergleich zum produzierenden Gewerbe. 

Eines der Projekte, mit dem es Handwerksbetrieben erleichtert werden soll, die Vorteile der Digitalisierung umfangreicher zu nutzen als bisher, ist das BMBF-Projekt Construction Wearables Digitization, kurz ConWearDi. Das  Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM war daran beteiligt. 

Velten: In diesem Projekt war es unser Ziel, eine integrierte Plattform aufzusetzen. Über sie wird es Handwerker*innen möglich, Daten auszutauschen, um die Arbeiten innerhalb eines Unternehmens sowie die Zusammenarbeit einzelner Gewerke auf der Baustelle besser koordinieren zu können.

Heil: Man sollte ConWearDi allerdings nur als einen ersten Schritt verstehen. Wir müssen ganz generell Lösungen erreichen, die deutlich über Einzelkonzepte, beispielsweise zur Buchhaltung, hinausgehen. Es geht darum, die Koordination der Prozesskette mit Hilfe der Digitalisierung signifikant zu verbessern. 

Welche Aufgaben übernimmt dabei das eBusiness KompetenzZentrum für das Bau- und Ausbauhandwerk

Heil: Wir sind Initiator des Forschungsprojektes und haben die Konsortialführung inne. Aber das ist nur das Formale. Entscheidender ist, dass wir bei diesem und ähnlichen Projekten als Brücke zwischen Handwerk und Wissenschaft fungieren. Mit Hilfe unserer Partner*innen wollen wir Leuchtturmprojekte durchführen, die praktisch demonstrieren, was möglich ist, wenn man die Digitalisierung im Betrieb vorantreibt. 

Haben Sie Erkenntnisse, warum der Rückstand des Handwerks in Deutschland im Bereich Digitalisierung so groß ist? 

Velten: Das hängt unter anderem mit der Struktur des Handwerks zusammen. In Deutschland gibt es eine Vielzahl sehr kleiner Unternehmen. Der Prozentsatz an Handwerksbetrieben, die weniger als zehn Mitarbeiter*innen haben, liegt bei deutlich über 70 Prozent. Und selbst größere Handwerksunternehmen nutzen die Digitalisierung nicht so umfassend, wie das vermutlich sinnvoll wäre. Sie arbeiten nur mit Tools, die einzelne Arbeitsschritte beschleunigen, also beispielsweise bei der Buchhaltung oder der Rechnungsstellung unterstützen. Alles, was an klassischer Handwerksarbeit zu koordinieren ist, wird aber meist noch analog erledigt. Dabei wäre es ausgesprochen sinnvoll, anfallende Daten intelligent zu erfassen und beispielsweise das digitalisierte Planen von Arbeitsaufträgen zu nutzen. 

Für das Handwerk ist dieses Problem also drängend? 

Heil: Theoretisch ja, praktisch werden die Maßnahmen eher verschleppt. Ein oder eine Handwerker*in steht morgens um 5:00 Uhr auf und steht um 6:00 Uhr an der Halle. Dann kommen die Mitarbeiter*innen, die muss er oder sie auf die Baustellen verteilen, ist er oder sie zurück im Büro, ruft der oder die Kund*in an, dann fährt er oder sie zu Erstkundenterminen oder zu laufenden Baustellen, das macht er oder sie bis abends um acht oder neun. Am Wochenende schreibt er oder sie Angebote und Rechnungen, die über die Woche liegengeblieben sind. Er oder sie ist im operativen Geschäft so stark involviert, dass für Digitalisierungsmaßnahmen kaum Zeit bleibt. 

Velten: Gerade bei größeren Unternehmen gibt es zwar immer Mitarbeiter*innen, die an der Effizienz und an Optimierungen arbeiten. Die Struktur des Handwerks in Deutschland aber bedingt, dass dieser Bereich ansonsten kaum beachtet wird. Deshalb gehört es zu unseren Aufgaben, nicht nur einzelne Tools an sich zu entwickeln. Wir wollen aufzeigen, welche Möglichkeiten Plattformen und Programme auch kleineren Handwerker*innen bieten können. Und dazu gehört es, praktisch zu illustrieren, wie Handwerksbetriebe ihre Arbeit digital organisieren können.

Nun haben Sie exemplarisch die Plattform entwickelt … 

Velten: … Sie dient uns letztlich als Demonstrator. Mit ihm zeigen wir, wie eine Planungsassistenz funktionieren kann, um die zeitlichen Ressourcen und Kompetenzen von Mitarbeiter*innen eines Handwerksbetriebs besser den einzelnen Aufgaben auf einzelnen Baustellen zuzuordnen. Vorhandene Ressourcen werden damit möglichst gut genutzt. Und die Wahrscheinlichkeit, besprochene Termine zur Fertigstellung einhalten zu können, steigt deutlich. In einem zweiten Schritt wollen wir erreichen, dass diese Option der digitalen Koordination nicht nur innerhalb eines Betriebs, sondern auch Gewerke übergreifend genutzt wird.

Andererseits gibt es schon heute eine Vielzahl von Software, die Handwerksbetriebe nutzen könnten. Von der einfachen Koordination über Messenger Dienste bis hin zu wenig teuren Planungstools zur Arbeitseinteilung. 

Velten: Die Lösungsräume im Handwerk sind so komplex, dass es nicht ausreichen wird, sich auf den kleinen, gemeinsamen Nenner zu einigen, den diese Tools bieten. Gerade im Bereich der Handwerksbetriebe geht es nicht nur um einen einfachen und unspezifischen Datenaustausch. Wir brauchen Plattformen, Softwareangebote oder Apps, die die spezifischen Interessen und Arbeitsweisen von Handwerksbetrieben berücksichtigen und integrieren. Die von Ihnen angesprochenen Planungstools können beispielsweise keine optimierten Planvorschläge automatisch generieren.

Nötig sind also Systeme, die die Praxis in der Handwerksdomäne unterstützen und die nicht erst angelegt oder gar spezifiziert werden müssen. 

Heil: Richtig. Der oder die Handwerke*in kalkuliert den Aufwand zur Erbringung einzelner Leistungen, wie beispielsweise eine Wohnungsrenovierung und bestimmt den Angebotspreis. Wenn der Auftrag erteilt wird, muss das System in der Lage sein, die Einzelleistungen als Arbeitspakete chronologisch und voneinander abhängig terminlich optimiert einzuplanen und diese bezogen auf die erforderlichen Kompetenzen den Mitarbeiter*innen einer Kolonne zuzuweisen. Also wie ein „Navigationssystem“ für die Baustelle, das durch Echtzeitdaten aus der digitalen Zeit-, Leistungs- und Fortschrittserfassung gespeist wird und auf Abweichungen reagiert und neu plant. Das Ganze, ohne dass sich der oder die Geschäftsführer*in oder ein oder eine Meister*in explizit damit beschäftigen muss, um beispielsweise Excel Tabellen einzurichten. Dazu fehlen sowohl Zeit als auch Interesse.

Herr Heil, um praktikable Tools zu finden und das Interesse daran zu erhöhen, arbeitet das eBusiness Kompetenzzentrum für das Bau- und Ausbauhandwerk mit zahlreichen Partnern zusammen. 

Heil: ... unter anderem mit dem Fraunhofer ITWM, dass bei ConWearDi einen wissenschaftlichen Part übernommen hat. Dabei ging es vor allem um die Entwicklung der Software, die als Planungsassistenz zum Einsatz kommt. 

Velten: Dieser Assistenz liegt ein spezifisches, mathematisches Modell zugrunde, dass wir entwickelt haben. Hier werden beispielsweise Bedingung definiert, die berücksichtigt werden müssen, um gültige Pläne bestimmen zu können. Darüber hinaus waren wir dafür zuständig, den Datenaustausch zu realisieren.

Das Projekt ist mit der Entwicklung dieses Prototypen abgeschlossen? 

Velten: Dieses Projekt schon. Aber natürlich haben wir mit der funktionierenden Software das Problem an sich noch nicht gelöst. Deswegen arbeiten wir in einem Nachfolgeprojekt unter anderem daran, einzelne Softwaretools, die jeweils spezifische Aufgaben übernehmen, zusammenzubringen. Ziel ist es beispielsweise, Zeiterfassungssysteme »baustellenreif« zu machen und mit der Planungsassistenz zu integrieren. Konzepte und Entwicklungen wie diese werden wir dann größeren Gruppen von Handwerksunternehmen vorstellen und Workshops anbieten, um unsere Ideen anhand des Feedbacks weiter anzupassen und zu optimieren. 

Wie stark ist das Interesse der Handwerker*innen dabei? 

Velten: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite ist das Interesse groß. Es geht darum, den Arbeitsalltag zu vereinfachen und besser zu koordinieren. Auf der anderen Seite sind derartige Systeme nicht Bestandteil der Überlegungen im Arbeitsalltag. Deshalb ist unsere Zusammenarbeit mit dem eBusiness Kompetenzzentrum für das Bau- und Ausbauhandwerk so wichtig. 

Heil: Es ist schwer, in dieser sehr heterogenen Handwerker*innen-Welt Veränderungen herbeizuführen. Ein oder eine Handwerker*in hat aus Erfahrungen gelernt. Nun einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und sich verstärkt auf digitale Werkzeuge zu verlassen, ist eher ungewohnt. Es geht deshalb nicht nur darum, funktionierende Techniken bereitzustellen. Sie müssen auch angenommen werden. Rund 40 Prozent des Erfolgs liegen deshalb im Change Management. Handwerksunternehmen müssen ihre Organisation verändern und Mitarbeiter*innen gewinnen, die mitmachen. 

Gehen Sie davon aus, dass auch der »Handwerksbetrieb um die Ecke« eines Tages von Projekten wie diesen profitieren wird? 

Velten: Selbstverständlich. In vielleicht fünf Jahren sollten viele unserer Konzepte in den dann immer digitaler werden Arbeitsalltag von Handwerksbetrieben integriert sein. 

Heil: Aktuelle Studien zeigen, dass bei Bauunternehmen mit einer umfassenden, digitalen Unterstützung Effizienzgewinne von 30 Prozent durchaus möglich sind. Ich denke, diese Zahl spricht für sich.

(aku)

 

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Interviewpartner
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Dr. Sebastian Velten
  • Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM
Michael  Heil
  • eBusiness-KompetenzZentrum
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