Die Evolution der Gießkanne

Die Idee ist naheliegend, die Folgen aber sind oft abwegig: Wer nach dem Gießkannenprinzip arbeitet, verschwendet Mittel, die an anderer Stelle sinnvoll genutzt werden könnten. Forscher*innen am Fraunhofer IIS arbeiten trotzdem mit einer Art Gießkanne. Ihre ist allerdings intelligent, sodass sie sowohl das nach ihr benannte Prinzip als auch dessen negative Folgen nicht ihr Eigen nennt. Wer mit ihr arbeitet, benetzt ausschließlich diejenigen Pflanzen, die Nährstoffe oder Pflanzenschutzmittel tatsächlich brauchen.

Pflügen, säen, düngen, ernten – wenn Landwirtschaft so einfach wäre. Unter freiem Himmel auf dem Feld aber wächst nicht nur, was dort auch wachsen soll. Die von den Landwirt*innen sorgsam auf das Saatgut vorbereiteten Ackerkrumen nehmen eben nicht nur Getreide, Mais, Raps, Kartoffeln, Rüben oder Sonnenblumen auf, sondern natürlich auch Unkraut beziehungsweise Beikraut aller Art. Was also tun gegen Fuchsschwanz, Windhalm, Risengras, den efeublättrigen Ehrenpreis oder die gemeine Quecke? Wer der Natur einfach ihren Lauf lässt, dürfte das spätestens bei der Ernte merken. Denn viele der »edlen Körner« hätten im Wettbewerb um Nährstoffe, Wasser und Licht gegen die hartnäckige und wilde Konkurrenz kaum eine Chance.

Um die Ernte zu retten und den Anbau lukrativ zu halten, gibt es – zumindest im Prinzip – zwei Alternativen: Erstens die umständliche, zeitraubende und damit ebenso kostspielige wie unpraktische Methode, jedes aufkeimende Beikraut zu suchen und entfernen. Oder zweitens der in der modernen Landwirtschaft übliche Einsatz von geeigneten Pflanzenschutzmitteln – pro Jahr durchschnittlich rund neun Kilogramm je Hektar landwirtschaftlicher Fläche. Laut Umweltbundesamt sind allein in Deutschland 283 Wirkstoffe in insgesamt 980 Mitteln mit fast 2.000 Handelsnamen zugelassen. Die Menge der hierzulande abgesetzten Pflanzenschutzmittel liegt bei jährlich rund 30.000 bis 35.000 Tonnen. Davon ausgebracht werden pro Hektar landwirtschaftlicher Fläche etwa neun Kilogramm. Jedes zweite davon ist ein Herbizid.

Das hört sich zunächst nicht unbedingt nach einem sparsamen Einsatz an. Aber natürlich ist auch den Landwirt*innen selbst daran gelegen, möglichst wenig chemische oder biologische Wirkstoffe kaufen zu müssen. Trotzdem verursachen die Mittel Schäden bei allen pflanzlichen Organismen oder den Wildtieren. Und sie belasten unser Trinkwasser. Die bittere Wahrheit ist: Auch im Jahr 2023 gibt es keinen industriellen Pflanzenschutz ohne eine Vielzahl an Nebenwirkungen.

Volle Ernte – auch mit neunzig Prozent weniger Pflanzenschutzmittel

Um den Schaden für die Natur möglichst gering zu halten und die Biodiversität zu erhalten beziehungsweise wieder zu verbessern, wollen das Europäische Parlament und der EU-Ministerrat eine neue Rechtsvorschrift verabschieden. Der Entwurf sieht vor, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in allen Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2030 zu halbieren. Ob und wie das möglich ist, wird in Fachgremien, Ministerien und Verbänden derzeit immer noch intensiv diskutiert.

Einen wegweisenden Schritt weiter sind die Forschungspartner des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts »INFIMEDAR«: Sie haben das Gießkannenprinzip revolutioniert – mithilfe smarter Technik. »Wir entwickeln ein Verfahren zur Bekämpfung von Beikraut auf landwirtschaftlichen Anbauflächen, das ebenso wirksam wie die heute noch übliche Vorgehensweise ist. Als Ziel aber wollen wir gemeinsam mit unseren Projektpartnern ermöglichen, dass Landwirt*innen bis zu 90 Prozent des Pflanzenschutzmittels einsparen können«, betont Stephan Junger vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS, das an INFIMEDAR beteiligt ist.

Das Konzept setzt zwar weiter auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, sucht dafür aber gezielt und automatisch ausschließlich die zu bekämpfenden Unkrautpflanzen aus. Erkannt und bestimmt werden die Pflanzen durch optische Sensoren und einem Analysesystem, die mit der Pflanzenschutzspritze über das Feld gezogen werden. »Unser Prinzip der ›intelligenten Gießkanne‹ ist so einfach wie wirkungsvoll: Nur dort, wo die Sensoren ein zu bekämpfendes Unkraut erkannt haben, öffnet sich das Sprüh- oder Gießventil. Alle anderen Stellen des Feldes, an denen kein Pflanzenschutzmittel notwendig ist, bleiben ausgespart«, erklärt Junger.

Unkräuter automatisiert erkennen

Das INFIMEDAR-Funktionsprinzip klingt fast schon trivial. Und dennoch ist seine Umsetzung erst jetzt möglich. Soweit es um das präzise Dosieren und ortsgenaue Ausbringen des Pflanzenschutzmittels geht, sei es technisch kein »Zauberwerk«, die einzelnen Sprühdüsen oder Gießventile über eine Steuerung individuell zu aktivieren. Was es bisher allerdings schlicht nicht gab, war ein System, das präzise und fehlerfrei ermittelt, wann und wo der Sprüher auf »Go« schalten soll. Naheliegend gewesen wäre etwa, dafür das Feld mit einer kamerabestückten Drohne abzusuchen. Ähnlich wie das menschliche Auge haben aber auch Algorithmen zur Bildauswertung große Schwierigkeiten damit, grün von grün so detailliert zu unterschieden, dass sie Kulturpflanze und unerwünschtes Beikraut schnell und zutreffend voneinander unterscheiden zu können.

Spektralanalyse zur Pflanzenerkennung

Die INFIMEDAR-Projektpartner setzen deshalb auf Pflanzenerkennung mithilfe der Spektroskopie: Mit leistungsfähigen Laborequipment erstellten sie zunächst eine umfassende Spektralanalyse des jeweiligen Pflanzentypus. Im nächsten Schritt bestimmten sie dann spezifische Merkmale, die nur diese Pflanze aufweist und hinterlegten die Referenzen in einer Analysesoftware.

Parallel dazu haben die Expert*innen ein System mit optischen Sensoren entwickelt, das zur spektralen Analyse der auf einem Acker sprießenden Gewächse genutzt werden kann. Herzstück sind jeweils rund einen halben Quadratzentimeter große Sensorarrays. Während der Fahrt erfassen diese Arrays kontinuierlich die von Boden und Pflanzen reflektierten Lichtwellen.

Die Sensorarrays bestehen aus jeweils einhundert Sensor-Metapixeln. Jedes dieser Metapixel ist wiederum mit nur 0,1 mal 0,1 Millimeter großen Sensor-Pixeln sowie mit optischen Filtern ausgestattet, die nur das Licht von mehr als zehn spezifischen Wellenlängenbereichen zum Sensor durchlassen. »Mit unserem System erfassen wir zwar nur einen Teil dessen, was ein konventionelles Labor-Spektrometer messen kann. In Vergleichstests im Labor aber haben wir nachgewiesen, dass diese Spektralinformationen bereits ausreichen, um den Pflanzentypus zuverlässig zu erkennen«, sagt Junger. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Analysesoftware zur Auswertung der Sensordaten auf für den Acker typische Unkräuter kalibriert worden ist.

Sensorik fährt mit

Für den Einsatz auf dem Feld werden die Sensor-Arrays in kurzem Abstand so an den Sprühauslegern des Traktors angebracht, dass sie einen genau definierten Bereich des Ackerbodens scannen. »Auf der gesamten Breite des Sprühauslegers soll das System dann jedes einzelne Beikraut mit einer Ortsauflösung von wenigen Zentimetern und in Echtzeit erkennen können«, erklärt Junger.

Spektralsensoren aus der Chipfabrik

Viel kosten dürfen die spektralen Sensorpixel nicht. Denn das INFIMEDAR-System benötigt viele davon. Sehr viele sogar. Einhundert pro Sensor-Array und rund ein Array pro laufenden Meter Sprühausleger. Da kommen bis zu mehrere Tausend Stück zusammen – nur um eine einzelne Pflanzenschutzspritze auszustatten. »Bei einer herkömmlichen Produktion mit konventionellen Fertigungsprozessen – insbesondere für die optischen Filter auf den Sensoren – würde unser System sehr schnell an seine betriebswirtschaftlichen Grenzen geraten«, betont Junger. Die Forscherinnen nutzen deshalb ein weitaus effizienteres und kostengünstigeres Verfahren, das ebenfalls von Fraunhofer IIS entwickelt wurde: Die Sensorarrays mit den Sensor-Pixeln werden in einer CMOS-Produktionsanlage auf der Basis von Silizium-Wafern hergestellt. Auch die optischen Filter, die benötigt werden, um nur die gewünschten Wellenlängen bis zum Sensor zu bringen, werden in der Chipfertigung mit integriert. Sie bestehen aus metallischen Strukturen (Gittern und Löchern) im Nanomaßstab. »Wir haben zwei der metallischen Schichten, die in der Chipfertigung auf die Wafer aufgebracht werden, zweckentfremdet«, so Junger. Statt wie üblich damit leitende Verbindungen anzulegen, fertigen die Forscherinnen damit die wellenlängenspezifischen Filterstrukturen in Form von optischen Nanostrukturen. Dieses Verfahren ermöglicht eine kosteneffiziente Produktion der Arrays auch in großen Stückzahlen.

Trendsetter für die Landwirtschaft

»Mit den Erfahrungen, die wir unter Laborbedingungen gesammelt haben, sind wir zuversichtlich, dass unser Ansatz für den Praxiseinsatz so weiterentwickelt werden kann, dass sich der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln erheblich senken lässt, die Umweltbelastung sinkt und Kosten eingespart werden«, so Junger. Darüber hinaus könne das System auch das vermehrte Verwenden von Bioherbiziden als Alternative zur herkömmlichen Unkrautbekämpfung unterstützen. Denn für den bislang üblichen, vollflächigen Einsatz auf Anbaufeldern sind diese in der Regel zu teuer. Durch einen gezielten Einsatz aber, wie ihn INFIMEDAR ermöglicht, könnten sie auch wirtschaftlich rentabel verwendet werden. In den kommenden Monaten wollen die Projektpartner das System im Rahmen von Feldtests auf verschiedenen Anbauflächen weiter erproben, damit das Konzept so bald wie möglich auf dem Markt angeboten werden kann.

(ted)


Dr. Stephan Junger

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