Lernende Logistik 

Zwei von drei Unternehmen sehen im Einsatz von Künstlicher Intelligenz eine Chance für sich. Gleichzeitig aber haben ebenfalls zwei Drittel der deutschen Unternehmen KI-Projekte noch nicht einmal geplant. Das belegen Zahlen des Digitalverband Bitkom. Grund für die Zurückhaltung der Industrie dürften allerdings weniger ausbleibende Engagements als vielmehr unfertige Ansätze sein. Denn noch fehlt das gesamtheitliche Know-how für Abläufe, Projekte und Weiterentwicklungen bei KI-Anwendungen. Nun aber könnte die interne Logistik zu einem Wegbereiter für den umfassenderen KI-Einsatz werden.

Zehn paar Schuhe. Wie viele Möglichkeiten gibt es, sie paarweise im Schuhregal anzuordnen? Rein mathematisch liegt die Lösung in der Fakultät von 10, was exakt 3.628.800 entspricht. Ausprobiert haben dürfte das aber noch nie jemand. Einfach schon deshalb, weil es kaum einen Unterschied macht, in welcher Reihenfolge das Schuhwerk im Regal steht. Ganz anders stellt sich die Situation in den Lagern produzierender Unternehmen dar. Von einzelnen Schrauben und Steckverbindungen bis zu vorgefertigten Baugruppen sind hier alle Einzelteile untergebracht, die in der Fertigung des gesamten Produktportfolios benötigt werden. Hier hat die Anordnung der Lagerplätze einen großen Einfluss auf die innerbetrieblichen Logistikabläufe. Zum Beispiel darauf, wie viele und wie lange Wege Kommissionierer*innen zurücklegen müssen, um alle Einzelteile für den jeweiligen Auftrag einzusammeln. Wurden die Lagerplätze klug gewählt, spart dies erheblich an Zeit und Personaleinsatz.

Aber wie lässt sich die optimale Anordnung im Lager ermitteln? Angenommen, das Lager hat eintausend Regalplätze, dann entspricht die Anzahl möglicher Anordnungen bereits einer Ziffer mit mehr als 2.500 Nullen. Durchprobieren ist unmöglich. Die Stückliste eines Produkts einfach nebeneinander zu positionieren greift ebenfalls zu kurz. Das würde die Kommissionierung anderer Aufträge deutlich umständlicher machen. Denn zahlreiche Teile werden nicht nur in einem Produkt verbaut und wären für diese dann gegebenenfalls am entferntesten Ende der Regalreihen zu finden. Zudem sind weitere Kriterien zu beachten. Dazu gehört etwa, dass schwere und große Teile einen Lagerplatz im Schwerlastregal benötigen, der mit Hubwagen oder Stapler angefahren werden kann. Oder dass die Laufwege so gestaltet sein müssen, dass sich zeitgleich agierende Lagerarbeiter*innen oder Pickroboter nicht gegenseitig behindern. »Mit mathematischen Formeln lassen sich solche komplexen Optimierungsprobleme nur schwer und teils überhaupt nicht lösen. Wir können aber mittels Verfahren der Künstlichen Intelligenz und maschinelles Lernen Lösungen berechnen, die nicht unbedingt das mathematische Optimum abbilden, aber aus praktischer Sicht eine gute Lösung sind«, erklärt Kaja Balzereit vom Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung – Institutsteil für industrielle Automation IOSB-INA. Allerdings gibt es dafür nicht einfach ein Plug-and-play-Programm. Vor allem aber ist der Einsatz von KI-Unterstützung für die allermeisten Unternehmen noch Neuland. »Mehrheitlich sind zwar fast alle interessiert daran, KI für sich zu nutzen. Aber sie scheitern dann an drei grundsätzlichen Fragen. Erstens: In welchen Bereichen kann KI unsere Arbeit unterstützen? Zweitens: Wie soll das funktionieren? Und drittens: Wie kann ein entsprechendes KI-Projekt erfolgreich geplant und umgesetzt werden?«, erklärt Balzereit.

KI-Unterstützung für die Intralogistik

Gemeinsam mit Industriepartnern wollen KI-Spezialist*innen vom Fraunhofer IOSB-INA und dem Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM deshalb eine Art Bibliothek schaffen, in der KI-Verfahren und Best Practices gesammelt werden. Dank dieses Instrumentariums – so die Erwartung – können sich Unternehmen dann künftig informieren, wie einzelne Aufgaben mithilfe von KI kostengünstiger und zeitsparender erledigt werden können.

»IMAGINE« heißt das Projekt, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zunächst für die unternehmensinterne Logistik eine Benchmark zu schaffen. Das Vorhaben wird vom Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Technologie-Netzwerks: Intelligente Technische Systeme OstWestfalenLippe (it’s OWL)gefördert. Dabei untersuchten die Projektpartner, in welchen Bereichen der Intralogistik Verbesserungsmöglichkeiten bestehen und wie wirtschaftlich der Einsatz intelligenter Algorithmen und maschineller Lernverfahren ist. »Der Katalog an KI-Potenzialen reicht von der dynamischen Anpassung des Wareneinkaufs an Lieferzeiten und Marktumfeld über die Effizienz der innerbetrieblichen Lagerungs- und Transportprozesse bis zur Fertigungssteuerung«, so Balzereit. Verbunden damit sei jeweils eine Vielfalt an Fragestellungen, die entlang der gesamten Kette der Intralogistik verortet sind. Demgegenüber gebe es auch aufseiten der Technik vielzählige Verfahren der Datenaufbereitung und die maschinellen Lernmethoden. Beides müsse nun gegenübergestellt und sinnvoll verknüpft werden.

Pilotprojekte setzen Benchmarks

»Die Frage, welche Anwendungen bei welchem Problem mit welcher Technik gelöst werden können, lässt sich nicht am grünen Tisch beantworten«, betont Balzereit: »Um eine KI-Anwendung für eine individuelle Problemstellung zu entwickeln, müssen wir wissen, welche Daten in den Unternehmen vorhanden sind und welche Anforderungen und Prozesse eine Firma zu bewältigen hat.« Um Erfahrungen zu sammeln, wollen die KI-Expert*innen von IMAGINE zunächst ausgewählte Pilotprojekte umsetzen. Beim Industriepartner Miele beispielsweise wird die zu Beginn dieses Artikels bereits beschriebene Optimierung der Anordnung im Lager in Bezug auf Kommissionierdauer und -wege im Fokus stehen. Bei Wilo, einem Produzenten von Pumpensystemen für Klimatechnik und Wasserversorgung zielt der KI-Einsatz auf das verbesserte Zusammenspiel zwischen der Bereitstellung von Einzelteilen und der Fertigung. Ziel ist es, die Dauer der Kommissionierung und der Produktion zuverlässig abzuschätzen, um die ideale Reihenfolge anstehender Aufträge ermitteln zu können.

Kein maschineller Lernerfolg ohne Handarbeit

Die bei Piloten wie diesen gewonnenen Erkenntnisse einschließlich des technischen »how to« sollen die IMAGINE-Bibliothek nach und nach auffüllen, um sie auch für externe Unternehmen lukrativer zu machen. »Es wird zwar nicht möglich werden, einzelne Anwendungen 1:1 auf andere Unternehmen zu übertragen. Aber die Bibliothek wird zuverlässig erprobte Methoden und Handlungsempfehlungen zur Verfügung stellen, die es ermöglichen, vergleichbare Projekte erfolgreich auf den Weg zu bringen«, sagt Balzereit. Ein Stück weit werde die KI-Unterstützung für die Unternehmen aber immer eine Maßanfertigung bleiben und zusätzliche Expertise und Arbeit erfordern. Dabei müssen KI-Expert*innen und die Verantwortlichen im Unternehmen eng zusammenarbeiten. Nur so können Erstere das notwendige Verständnis für die Prozesse und Zusammenhänge entwickeln und vorhandene Datenbestände verstehen, um etwa Ausreißer in den Daten zu erkennen und zu bewerten. Zudem müssen Schulungen dafür sorgen, dass einzelne Mitarbeiter*innen im Unternehmen verstehen, wie das eingesetzte ML-Verfahren zu seinen Ergebnissen kommt, um besser einschätzen zu können, inwieweit sie den Verbesserungsvorschlägen der KI vertrauen dürfen. » Ein effizienter und verlässlicher Einsatz von maschinellem Lernen bedeutet auch, die Ergebnisse immer wieder zu überprüfen und die Modelle und Lernroutinen gegebenenfalls nachzujustieren«, erklärt Balzereit. Erst durch dieses Zusammenspiel zwischen erfahrenem Mensch und lernender Maschine rechne sich die KI-Unterstützung in der Intralogistik auch langfristig: Die Forscher*innen gehen davon aus, dass Unternehmen damit ihre Prozesse in Lagerhaltung, Transport und Auftragsabwicklung um mindestens zehn bis 15 Prozent optimieren können.

(ted)


Kaja Balzereit

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